© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

Die Devise lautet: Nach uns die Sintflut
Finanzpolitik: Bund und EU verstecken ihre Schulden zunehmend in Sondertöpfen / Bundesrechnungshof warnt vor den dramatischen Folgen
Ulrich van Suntum

Auf den ersten Blick sehen die Zahlen gar nicht schlecht aus: Trotz der Corona-Pandemie und der dramatischen Energiekrise liegt die Gesamtverschuldung Deutschlands mit 2,5 Billionen Euro (67 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt/BIP) nur knapp über der Maastrichter Höchstgrenze von 60 Prozent. Dabei entfallen zwei Drittel der seit 2019 um 600 Milliarden Euro gestiegenen öffentlichen Schulden auf den Bund. Der Rest teilt sich auf die Bundesländer, die Gemeinden und die Sozialversicherung auf. Aber diese offiziellen Zahlen sind stark geschönt.

Denn zum einen versteckt der Bund nicht erst seit Antritt der Ampelkoalition einen Teil seiner Haushaltsrisiken in sogenannten Sonder-, Zweck- und Treuhandvermögen. Das sind ausgelagerte Aufgabenbereiche, deren Verbindlichkeiten und Risiken nicht im offiziellen Haushalt auftauchen. Zum anderen bergen auch die Verpflichtungen gegenüber der EU erhebliche fiskalische Gefahren. Darauf hat der Bundesrechnungshof (BRH) in seinem jüngsten Bericht warnend hingewiesen.

„Haushaltsverfassungsrechtlich ist das alles problematisch“

Neun Schattenhaushalte listen die Beamten allein beim Bund für 2021 auf. Das 100 Milliarden schwere Sondervermögen für die Bundeswehr ist dabei noch gar nicht miterfaßt. Der offizielle Wehretat liegt in diesem Jahr nur bei 55,33 Milliarden Euro. Eigentlich verstößt die Regierung damit gegen die im Grundgesetz (Artikel 110 Abs. 1 Satz 1) vorgeschriebene Einheit des Haushalts. Nur im Ausnahmefall darf sie davon abweichen. Aber die Ausnahme ist inzwischen zur Regel geworden. Die Bonner Haushaltswächter haben dieses Vorgehen immer wieder scharf kritisiert. Ihr jüngster Bericht ist eine schallende Ohrfeige für die Ampel, aber diese hält ungerührt die andere Backe hin.

Beispiel Corona-Fonds: Dieser „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“ (WSF) genannte Sondertopf wurde im März 2020 geschaffen. Er sollte Garantien und Kredite an Firmen geben, die durch die Pandemie in Liquiditätsschwierigkeiten geraten waren. Das ursprüngliche Finanzvolumen betrug 600 Milliarden Euro, wovon aber nur ein Bruchteil abgeflossen ist. Statt jedoch den WSF wie vorgeschrieben aufzulösen, verlängerte die Bundesregierung ihn im Dezember 2021 – und die Ampel will den Fonds jetzt für ganz andere Zwecke nutzen. So sollen damit die steigenden Energiekosten für Unternehmen und Privathaushalte abgefedert werden. Der BRH hält dies für „haushaltsverfassungsrechtlich problematisch“. Er moniert insbesondere fehlende Transparenz und Legitimation, was im Ampelkabinett offenbar niemanden juckt.

Fragwürdige Töpfchenwirtschaft mit Kreditfinanzierung wird auch von der EU betrieben. Gerade erst hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine Klage gegen den Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ (NGEU) abgewiesen (JF 50/22). Dabei ist eine eigene Verschuldungsoption in den EU-Verträgen gar nicht vorgesehen. Aber ausnahmsweise soll das in „Notfällen“ nach dem Urteil trotzdem erlaubt sein. Woraus die BVerfG-Richter dies ableiten, ist völlig unklar. Einer von ihnen, der frühere saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller, wirft seinen Kollegen in einem geharnischten Minderheitsvotum denn auch vor, ohne Rechtsgrundlage geurteilt zu haben.

Zumindest ist es eine kreative Auslegung der Gesetzestexte, wie man es inzwischen auch aus anderen Urteilen kennt. Besonders abenteuerlich: Die Verschuldung soll ausgerechnet nur dann erlaubt sein, wenn sie außerhalb des regulären Haushalts erfolgt. Damit ermuntern die Richter die EU faktisch dazu, immer neue Schattenhaushalte zu bilden, die nicht der Parlamentskontrolle unterliegen. „Man muß den Verfassungsrichtern vorwerfen, daß sie die demokratische Kontrolle reduzieren., sagt Bernd Lucke, einer der Kläger gegen den Fonds. Praktisch wird der NGEU-Fonds inzwischen für ganz andere Zwecke verwendet. Das meiste Geld fließt in den Klimaschutz, einiges sogar in ganz normale Haushaltstitel. Damit ist die „strenge Zweckbindung“, die das BVerfG eigentlich verlangt, zweifelsfrei verletzt. Selbst das scheint aber die Karlsruher Richter nicht wirklich zu stören.

Letztlich haben sie so der eigentlich verbotenen EU-Verschuldung Tür und Tor geöffnet. Und das ist nicht der einzige Sündenfall. Weitere EU-Sondertöpfe stehen – zusätzlich zu dem 166-Milliarden-Risiko des NGEU – für Kurzarbeitergeld (94,3 Milliarden Euro), Finanzmarktstabilisierung (46,8 Milliarden), Kredite an Nicht-EU-Länder (33 Milliarden) oder „strategische Investitionen“ (24,7 Milliarden) bereit. Letzteres sind Vorhaben mit sehr unsicherer Rentabilität, in die private Kapitalgeber normalerweise kein Geld stecken würden. Es liegt auf der Hand, daß damit auch entsprechende Verlustrisiken verbunden sind. Diese betreffen auch den Bundeshaushalt, tauchen aber nirgendwo dort auf, wie der Rechnungshof moniert.

Die Verschuldungsquote der EU-Länder liegt schon bei 94 Prozent

Dabei ist klar, daß für die Schulden der EU letztlich die Mitgliedsländer geradestehen müssen. Deutschlands Haftungsrisiko beträgt – entsprechend dem Anteil an der Wirtschaftsleistung – 24 Prozent. Derzeit beträgt das Gesamtvolumen aller EU-Sondertöpfe 365 Milliarden Euro, das meiste davon kreditfinanziert. Innerhalb der letzten Dekade hat sich das Schuldenvolumen der EU damit bereits verzehnfacht. Zusätzlich geplant ist eine weitere Ausweitung um weitere 220 Milliarden, womit dann schon mehr als eine halbe Billion Euro im Risiko stehen. Das BVerfG hält sogar eine EU-Gesamtverschuldung bis zu 750 Milliarden Euro für zulässig. Wie auch immer: Wenn es hart auf hart kommt, müßte Deutschland möglicherweise sogar für den Gesamtbetrag haften. Man stelle sich etwa vor, die EU bräche auseinander und die anderen großen Mitgliedsländer wären zahlungsunfähig. Schon mit ihren eigenen Schulden sind nämlich viele von ihnen überfordert. Im Durchschnitt liegt die Verschuldungsquote der EU-Länder bei 94 Prozent, in Frankreich mit 113 Prozent und Italien mit 150 Prozent sogar noch deutlich darüber.

Aber auch außerhalb eines solchen Horrorszenarios ist das Haftungsrisiko für den Bundeshaushalt „erheblich und wird absehbar weiter steigen“, warnt der BHR. Zwar behauptet die EU in ihrem jüngsten „Tragfähigkeitsbericht“, alles sei hinreichend abgesichert. Aber dabei stützt sie sich auch darauf, daß im Notfall eben die Mitgliedsstaaten einspringen müssen. Gerade erst hat die EU das dafür vorgesehene Limit („Eigenmittelobergrenze“) erhöht. Zudem löst sie fällige Kredite regelmäßig durch neue Darlehen ab, wenn die Schuldner nicht zahlen wollen oder können. „Dadurch verschieben sich die Risiken für die öffentlichen Haushalte immer weiter in die Zukunft“, so der Rechnungshof. Genau das ist wohl gewollt – nach uns die Sintflut scheint die Devise auch bei der EU zu sein.

„Bemerkungen 2022 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes“: www.bundesrechnungshof.de