© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

Auf Distanz zu den Untertanen
Reichstag: Ein Graben und Zäune sollen das Parlament künftig vor unerwünschten Besuchern schützen
Peter Möller

Können wir dem Volk trauen? Diese Frage, bei der immer ein gehöriges Maß an Skepsis mitschwingt, haben sich Herrscher zu allen Zeiten gestellt. Sie steht für das Spannungsverhältnis, das für die Beziehung zwischen „denen da oben“ und „denen da unten“ seit jeher kennzeichnend ist: Zum einen suchen die Herrschenden schon immer ganz bewußt die Nähe zu ihren Untertanen (Stichwort: „Bürgernähe“) – oder wollen zumindest den Anschein erwecken – zum anderen sind sie, sei es aus der berechtigten Sorge um die persönliche Sicherheit oder einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem Volk folgend, immer auch auf Distanz bedacht gewesen. Ganz nach dem Motto: Nur gucken, nicht anfassen.

Dieses Wechselspiel der Gefühle prägte schon immer auch die Architektur staatlicher Bauten. Wo früher massiv gebaut wurde, um Macht und Würde Ausdruck zu verleihen, tritt in demokratisch verfaßten Staaten häufig das Ideal von Leichtigkeit, Offenheit und Transparenz in den Vordergrund, das gilt insbesondere für politische Bauten in der Bundesrepublik. In diesem Zusammenhang gilt in der bundesrepublikanischen Theorie des demokratischen Bauens Glas als das Nonplusultra unter den Baustoffen, verkörpert er doch wie kein anderer die vielbeschworene Transparenz politischer Prozesse sowie Offenheit und Bürgernähe: Wir Politiker haben vor unseren Wählern, haben vor dem Volk nichts zu verbergen, lautet die Botschaft, die manch Spötter in der Vergangenheit zu dem Rat veranlaßte, Parlament und Regierung könnten dann doch auch gleich in ein Gewächshaus ziehen.

Die architektonisch reinste Form fand diese besondere Ausprägung des bundesrepublikanischen Bauens im 1992 vollenden Neubau des Bonner Plenarsaales. Die Fassade des von dem Architekten Günter Behnisch entworfenen Baus besteht fast ausschließlich aus Glas und ermöglicht tiefe Einblicke in den Plenarsaal und in die Arbeit der Abgeordneten. Mit der Rückkehr des Parlamentes nach Berlin und hinter die massiven wilhelminischen Mauern des Reichstagsgebäudes war mit dieser demonstrativ zur Schau gestellten architektonischen Transparenz vorerst Schluß. Aber immerhin bot die neu errichtete Kuppel ausreichend Gelegenheit, im größeren Umfang das geliebte Glas zu verbauen und so dem Anspruch, das eigene politische Handeln auch visuell jederzeit nachvollziehbar zu machen, gerecht zu werden. In dieser begehbaren Kuppel kann sich das Volk zudem der Illusion hingeben, den Parlamentariern im wahrsten Sinne des Wortes „aufs Dach“ zu steigen.

Doch der Wind hat sich gedreht. Künftig wollen die Berliner Parlamentarier das Volk verstärkt auf Abstand halten. Auf der Westseite des Reichstages, auf dem Platz der Republik vor dem Hauptportal, soll ein 2,5 Meter tiefer und zehn Meter breiter parallel zum Gebäude verlaufender Graben das Parlament vor unterwünschten Besuchern schützen und verhindern, daß das Volk dem Giebel mit dem Widmungsspruch „Dem Deutschen Volke“ zu nahe kommt. Rechts und links der Freitreppe sollen zudem von den Gebäudeecken bis zum Graben 55 Meter lange und 2,5 Meter hohe Zäune aufgestellt werden. Bislang verwehren hier provisorische Absperrgitter den Zutritt. Damit wäre die gesamte Westseite des Reichstages in bislang nicht bekanntem Masse abgeschottet.

Der Clou dieses von der Bundestagsverwaltung erdachten Sicherheitskonzepts: Bürger, die vor ihrem Parlament stehen, werden auf den ersten Blick gar nicht bemerken, daß sie ihren Volksvertretern nicht so auf die Pelle rücken dürfen, wie sie sich das vielleicht wünschen, denn die Sicht zur Hauptfront des Reichstages bleibt ungetrübt. Erst wer sich künftig näher heranwagt, dem wird vor Erstaunen ein „Aha“ entfahren, wenn sich vor ihm plötzlich ein Abgrund auftut– so jedenfalls die Überlegungen der Beamten der Parlamentsverwaltung, die dem Reichstagsgraben denn auch den griffigen Namen „Aha-Graben“ verpaßten.

Die Idee ist allerdings nicht neu, sondern entstammt der englischen Gartenbaukunst des 18. Jahrhundert. Sie wurde von dem englischen Geländegestalter Charles Bridgeman erdacht, um Gärten unauffällig von der umliegenden Landschaft abzugrenzen und Tiere und Untertanen draußen zu halten. Im Gegensatz zu einer Mauer oder einem Zaun, die bereits von weitem unmißverständlich deutlich machen, daß es hier nicht für jeden weitergeht, hält ein Aha-Graben zumindest die Illusion von Offenheit am Leben. Bei den konkreten Plänen für die Bauausführung hat sich die Bundestagsverwaltung dennoch lange Zeit auffallend bedeckt gehalten. Um mehr über den geplanten „Burggraben“ zu erfahren, hatte das Internetportal „Frag den Staat“ 2020 den Bundestag daher sogar auf Herausgabe des Beschlusses verklagt.

Im Zusammenhang mit dem Bau des Grabens erhält der Bundestag auch ein neues Besucher- und Informationszentrum. Bislang dienen einige wenig ansehnliche Container vor dem Reichstag den Besuchern, die die Kuppel besteigen wollen, als Einlaßkontrolle. Dieses Provisorium soll bis 2029 durch einen festen Bau ersetzt werden, von dem aus die Besucher künftig durch einen Fußgängertunnel die geplanten Befestigungsanlagen vor der Westfassade unterqueren können, um in den Reichstag zu gelangen. Wie in Berlin nicht anders zu erwarten, zieht sich das Projekt; bereits 2016 lag der erste Entwurf vor. Doch Sicherheitsbedenken und notwendige Änderungen an der Planung vereitelten den für 2020 geplanten Baubeginn; dieser ist nun für 2025 vorgesehen – vorerst. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, sind in der Zwischenzeit auch die veranschlagten Kosten von ursprünglich 150 Millionen Euro auf derzeit bereits mehr als 200 Millionen Euro gestiegen. Angesichts der inflationsbedingten Steigerungen der Baukosten dürfte das noch längst nicht das Ende sein.

Bleibt die Frage, warum der Bundestag nun mit einem derartigen Aufwand von der Bevölkerung abgeschirmt werden soll. Ohne Frage hat sich der Blick der Öffentlichkeit auf die Sicherheitslage des deutschen Parlamentes in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Vor allem das Eindringen von Anhängern des abgewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump am 6. Januar 2021 in das Kapitol in Washington und der sogenannte „Sturm auf den Reichstag“ am 29. August 2020 haben nicht nur die Sicherheitsbehörden zu einer Neubewertung der Gefahrenlage veranlaßt.

Dabei spielt es gar keine Rolle, daß der angebliche Sturm auf den Reichstag eher eine ungestüme, aber friedliche Besetzung der Freitreppe vor dem Gebäude war, als ein Versuch, gewaltsam in das Gebäude einzudringen. Dafür sprechen nicht zuletzt auch die Ergebnisse der juristischen Aufarbeitung: Rund 70 Prozent der Verfahren gegen Teilnehmer, meist wegen Landfriedensbruchs, wurden eingestellt, bislang gab es trotz eines erheblichen juristischen Aufwands nur wenige Verurteilungen.

An der medialen Einordnung der Ereignisse am Rande einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen als „Angriff auf die Demokratie“ hat dieser Befund dennoch nichts geändert. Sind die Verantwortlichen bei ihrer Entscheidung, nun für mehr Sicherheit einen Graben vor dem Reichstag zu ziehen, also Opfer der verzerrten Berichterstattung eines maßgeblichen Teils der Medien geworden?

Ein flüchtiger Blick auf die Geschehnisse könnte zu diesem Schluß führen und ein gewisses Verständnis für die Pläne der Bundestagsverwaltung wecken – doch die Pläne sind schon deutlich älter. Den ersten Beschluß für den Bau eines Sicherheitsgrabens faßte die Baukommission des Ältestenrats des Bundestages bereits am 6. Juli 2018. Also weit vor den Ereignissen in Washington und den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin.

Vielmehr sollten die nun geplanten Sicherheitsmaßnahmen ursprünglich zur Abwehr einer terroristischen Bedrohung aus dem islamistischen Spektrum dienen. Beispielsweise um einen Anschlag mit einem Fahrzeug zu verhindern, wie er Ende 2016 von dem Islamisten Anis Amri mit einem Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz verübt wurde. Dafür sprechen auch die Poller, die auf der anderen Seite des Reichstages aufgestellt wurden und die verhindern sollen, daß potentielle Attentäter, vom Brandenburger Tor kommend, mit einem Fahrzeug auf die Rückseite des Gebäudes gelangen.

An dem Befund, daß sich das deutsche Parlament mit den geplanten Maßnahmen vom Volk nicht nur räumlich weiter entfremdet und abkapselt, ändert das natürlich nichts. Es scheint daher dringend angeraten, daß die politisch Verantwortlichen ihre Pläne zum Schutze des Bundestags noch einmal gründlich überdenken, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, daß der Graben zwischen Bürgern und Politik noch größer wird.

Foto: Geplante Baumaßnahmen auf der Westseite des Berliner Reichstagsgebäudes vor dem Hauptportal: Der Graben soll zweieinhalb Meter tief und zehn Meter breit sein