© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

Auf das Diesseits gerichtet
Philosophischer Materialismus: Zur Erinnerung an den vor 150 Jahren verstorbenen Ludwig Feuerbach
Florian Werner

Sie gehören zum ganz gewöhnlichen Stadtbild unzähliger Orte in den neuen Bundesländern: die Feuerbachstraßen. Straßenschilder mit diesem Namen stehen in Leipzig, Görlitz, Erfurt, Potsdam oder auch in Cottbus. Neben dem Kommunistenführer Ernst Thälmann und dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin zählte der Philosoph Ludwig Feuerbach zu den beliebtesten Namenspatronen der ehemaligen DDR. Der Name „Feuerbach“ zierte nicht nur Straßen und Plätze, sondern auch Schulen, Betriebe und Forschungsinstitute im sozialistischen Deutschland. Die SED sah in dem gebürtigen Landshuter einen philosophischen Vorgänger von Karl Marx und Friedrich Engels. Feuerbachs materialistische Religionskritik gehörte deshalb zum literarischen Kanon des Landes. Nach der Wende ließ man die Feuerbachstraßen stehen, anders als etwa die Clara-Zetkin-Straße in der Berliner Mitte oder die Rosa-Luxemburg-Straße in der Dresdner Neustadt.

Dabei hat Feuerbachs philosophischer Atheismus die ostdeutsche Mentalität heute ebenso sehr beeinflußt wie das – freilich stark uminterpretierte – Luxemburg-Motto „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“. Auch dreißig Jahre nach der Wende gibt eine Mehrheit der Mitteldeutschen laut einer jüngsten Umfrage des Statistischen Bundesamtes nach wie vor an, nicht religiös zu sein. In Brandenburg 67 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 68 Prozent und in Sachsen-Anhalt sogar 70 Prozent. Im Westen der Bundesrepublik sieht es hingegen genau umgekehrt aus. Dort gab nur eine Minderheit der Befragten an, überhaupt keiner Religion anzugehören. 

Dieser kulturelle Unterschied hat auch historische Ursachen, nicht zuletzt die Gängelung der Kirchen durch die SED-Staatsführung. Das im Sozialismus geschehene Unrecht kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich während der DDR-Zeit eine distinkt ostdeutsche Geisteshaltung entwickelt hat, zu deren Quellen eben auch die damals revolutionäre Religionskritik des Philosophen Feuerbach gehört.

Feuerbach brachte Hegel und das materialistische Denken zusammen

Ludwig Andreas Feuerbach wurde 1804 im niederbayerischen Landshut geboren. Sein Vater Anselm von Feuerbach arbeitete als Jurist für König Maximilian I. in München. Dort schrieb der gefragte Gelehrte an einem neuen Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern. Im Elternhaus des späteren Philosophen Feuerbach gingen zahlreiche berühmte Geistesgrößen ein und aus, darunter auch der Philosoph Heinrich Jacobi, der Theologie Immanuel Niethammer und der Philologe Friedrich Thiersch.

Schon in der Schulzeit zeigte sich der junge Feuerbach fasziniert von der Theologie, deren Studium er aber 1824 schon nach wenigen Semestern aufgab, um im preußischen Berlin Philosophie zu studieren. Dort hörte er sämtliche Vorlesungen des damals auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stehenden Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Feuerbach begeisterte sich zunächst für Hegels idealistische Philosophie, die mit dem Anspruch auftrat, das gesamte menschliche Wissen zu einem großen System zu vereinigen. In seiner Kritik des „Anti-Hegels“ verteidigte er dieses System sogar gegen die Einwände seiner kantianischen Kollegen.

Gleichzeitig stießen Feuerbach aber die autoritären Züge des Hegelschen Denkens ab. In seinen Vorlesungen über die Philosophie des Rechts referierte der alte Hegel regelmäßig auf den Staat als „Gang Gottes in der Welt“. Die Freiheit des einzelnen Menschen sei diesem gegenüber unerheblich, das Individuum nur ein „Moment“ der sich verwirklichenden Staatsidee. Feuerbach war diese rhetorische Vergottung des Staates zuwider – bereits 1830 hatte er sich mit seinen religionskritischen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit eine akademische Karriere verbaut. Die Schrift wurde umgehend von den preußischen Behörden verboten.

Gegen Hegel vertrat Feuerbach den Standpunkt, daß die Philosophie nicht von abstrakten Ideen, sondern vom wirklichen Menschen ausgehen müsse. „Alle Spekulationen über das Recht, den Willen, die Freiheit, die Persönlichkeit ohne den Menschen, außer dem oder gar über dem Menschen ist eine Spekulation ohne Einheit, ohne Notwendigkeit, ohne Substanz, ohne Grund, ohne Realität“, brachte er seine Kritik später in den „Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie“ auf den Punkt. Der konkrete Mensch mit seinen Bedürfnissen, Erfahrungen und Anlagen sei die Realität des Rechts, der Freiheit und eben auch des Staatswesens.

In seinem 1845 erschienenen Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“ zog Feuerbach schließlich die Konsequenz aus diesem Gedanken. Wie schon der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher bestimmte er die Religion als „Bewußtsein des Unendlichen“ – setzte dieser allseits bekannten Bestimmung aber den originellen Zusatz hinzu, daß diese Unendlichkeit nichts mit einem wie auch immer gearteten Gott, sondern mit dem „unendlichen Wesen“ des Menschen selbst zu tun habe. „Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem anderen.“

Was der Mensch im Diesseits sei und noch aus sich machen könne, werde durch die christliche Religion in ein unerreichbares Jenseits verlegt, mahnte Feuerbach. Nicht nur enteigne sich der Mensch in seinem Gottesbild seiner eigenen Eigenschaften. Vielmehr halte der Glaube an ein Paradies im Himmel auch noch die Kräfte für die Verbesserung des Lebens auf der Erde zurück. Wer Armut, Krieg und Tyrannei als „göttliche Prüfung“ mystifiziere, nähme sich selbst die nötigen Mittel aus der Hand, um all diese Mißstände zu überwinden.

Der Philosoph Feuerbach glaubte daran, daß die Menschen dieses Ziel mit Hilfe ihrer Vernunft erreichen könnten. Er stellte seine Religionskritik in den Dienst eines heiteren und zuversichtlichen Menschenbildes. Sein an die Klassische Deutsche Philosophie anknüpfender Materialismus degradierte den Menschen nicht einfach zu einem tickenden Automaten, wie das noch bei dem französischen Materialisten Julien Offray de La Mettrie der Fall war. Indem Feuerbach das Gottesbild des Menschen zu einer authentischen Selbstbeschreibung der menschlichen Gattung umdeutete, attestierte er ihr einen reichen Schatz von Vermögen und Fähigkeiten. „Die Wahrheit existiert nicht im Denken, nicht im Wissen für sich selbst. Die Wahrheit ist nur die Totalität des menschlichen Lebens und Wesens“, schrieb Feuerbach in seinen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft“.

Im Sozialismus durfte der atheistische Humanismus Feuerbachs weiter zirkulieren, auch wenn er sich eigentlich nicht wirklich in die kommunistische Weltanschauung einpassen ließ. Nicht umsonst hat der Materialist mit seiner Religionskritik am Ende nicht nur Marx und Engels, sondern auch Richard Wagner und Friedrich Nietzsche beeinflußt. Und womöglich wirkt Feuerbachs atheistischer Humanismus sogar noch bis in die Gegenwart nach. Nirgends in Deutschland läßt sich die Bevölkerung so wenig von moralisierenden Postulaten, wissenschaftlich wirkenden Welterklärungen und ideologischem Popanz blenden wie im Osten der Republik. Und nirgends nehmen die Menschen auch ihr politisches Schicksal so entschlossen in die Hand wie dort, wo Feuerbach kulturell nach wie vor zu Hause ist. 150 Jahre nach seinem Ableben gilt es, seine Verdienste um die mitteldeutsche Kultur zu würdigen.