© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

„Das ist doch alles Mumpitz!“
Literatur: Eckhart Nickels „Spitzweg“ ist eine im vorteilhaftesten Sinn aus der Zeit gefallene Pennälergeschichte und eine Feier der Kunst
Dietmar Mehrens

Es gibt Romane, die setzen auf eine ausgetüftelte Handlung und eine Spannungsdramaturgie, die den Leser von Seite zu Seite eilen lassen, als blätterten sie sich von selbst um. Und es gibt Romane, für deren Seiten man sich beim Lesen Zeit nehmen muß. Sie leben von der sprachartistischen Feinjustierung, für die jeder Satz auf eine Goldwaage gelegt wird, ehe er Einlaß in das Werk findet, das unter derart sorgfältiger Abwägung entsteht. Für viele ist es genau dieses Kriterium, das den Unterschied konstituiert zwischen Literatur und Trivialliteratur, zwischen edler Kunst also und profaner Unterhaltung.

Wenn ein Roman den Titel „Spitzweg“ trägt, dann kann man sich vorstellen, welcher Kategorie er zuzurechnen ist. Zu den wenigen Spannungsmomenten in dem Buch zählen eine Auseinandersetzung auf der Straße, die durch eine fliegende Chopin-Schallplatte entschieden wird, und die Festsetzung einer Gruppe von Schülern durch den Pförtner eines Kunstmuseums, nachdem unter rätselhaften Umständen das Spitzweg-Gemälde „Gähnender Wachposten“ entwendet worden ist.

Aber der Reihe nach: Drei Abiturienten, die sich miteinander unterhalten, als seien sie mit einer Zeitmaschine aus der Salongesprächskultur des 18. Jahrhunderts in eine nicht näher definierte, aber offenbar noch mobilfunkbefreite Gegenwart geflohen, verschwören sich zu einer boshaften Revanche für eine beleidigende Äußerung ihrer Kunstlehrerin. Diese, eine Frau Hügel, kanzelt nämlich im ersten Kapitel, „Original und  Fälschung“, ein Selbstbildnis der durchaus begabten Kirsten mit dem Verdikt „Mut zur Häßlichkeit!“ ab, woraufhin das Mädchen schnurstracks den Unterrichtsraum verläßt. Die anderen beiden Beteiligten der für Frau Hügel vorgesehenen Erziehungsmaßnahme sind der kunstverständige Exzentriker Carl und der heimlich in Kirsten verliebte Ich-Erzähler. Letzterer ist auf der Suche nach „einer hinter den sinnlichen Eindrücken versteckten Welt“ und dem „Zusammenhang allen Wesens“; er möchte dem Geheimnis auf die Spur kommen, das die Welt im Innersten zusammenhält. Carl trägt altmodische Schuhe, benutzt einen Spazierstock und nascht gern After-Eight-Minztäfelchen. Er wird charakterisiert als „im vorteilhaftesten Sinn aus der Zeit gefallen“, eine Beschreibung, die übrigens gleichermaßen auf Eckhart Nickels Buch zutrifft.

Natürlich ist es auch Carl, der die abgefeimte Strafaktion ausgeheckt hat. Im Wohnhaus seiner Eltern hat er sich eine „Kunstversteck“ genannte Abseite eingerichtet. Dort gedenkt er Kirsten zu verstecken. Mit einem an das Ophelia-Gemälde von John Everett Millais angelehnten Bild, das die geschmähte Künstlerin selbst anfertigt, soll angedeutet werden, daß sie sich in einer Frustreaktion das Leben genommen haben könnte. Denn das Bild von Millais zeigt Ophelia, die mutmaßliche Selbstmörderin aus Hamlet, wie sie leblos in kalten Fluten treibt. Das von Kirsten in Carls Abseite angefertigte Selbstporträt händigen die beiden Freunde dem Schuldirektor im Beisein von Frau Hügel am nächsten Morgen aus und verbringen den Rest des Vormittags damit, so zu tun, als würden sie nach der vermeintlich Verschollenen suchen. Als die beiden sich jedoch in Carls Kunstversteck zurückbegeben, erleben sie eine böse Überraschung: Kirsten ist spurlos verschwunden. Und mit ihr ein Teil von Carl Spitzwegs „Der Hagestolz“. Von dem Gemälde verwahrte Carl eine Kopie in seiner Abseite. Sein ausgefeilter Racheplan hat sich verselbständigt und eine völlig neue Richtung eingeschlagen. Nun ist guter Rat teuer.

Flucht aus einer Welt existentiellen Unbehagens

Wie schon eingangs angedeutet: Ein Seitenumblätterer ist dieses Buch nicht. Auf das rasche Fortschreiten der Handlung, die sich mühelos auf Kurzgeschichtenlänge raffen ließe, kommt es dem mit „Eurotrash“-Autor Christian Kracht (JF 14/21) befreundeten 56jährigen erkennbar nicht an. Ganze drei der insgesamt 24 Kapitel widmen sich dem für die Handlung völlig irrelevanten Besuch des Erzählers bei seinem Deutschlehrer und der in dessen Keller untergebrachten klimatisierten Bibliothek. Fast sechs Seiten sind reserviert für die Wiedergabe eines Plädoyers zur Anonymisierung der Kunst, das Carl als Referat in der Schule hält. Drei Seiten lang geht es um die total nebensächlichen Spielregeln von „Kastaniengolf“. Für ungeduldige Leser ist das nichts. Sie werden sich voraussichtlich der Meinung anschließen, mit der Kirsten Carls Intrige zunächst quittiert: „Das ist doch alles Mumpitz!“ 

Kunstverständige Sprachästheten, die schon die langsam vorwärtsschreitenden Flaniergeschichten des 2018 verstorbenen Wilhelm Genazino („Ein Regenschirm für diesen Tag“) zu schätzen wußten, kommen dagegen voll auf ihre Kosten. Denn dem Roman wohnt, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, „eine versteckte Vornehmheit inne, die [...] über jeden ästhetischen Zweifel erhaben“ ist. Besonders beeindruckt Nickels konsequenter Verzicht auf Elemente der Moderne und Postmoderne. In Wörtern wie „Stutzer“, „Dufflecoat“ oder „Jause“ findet Carls archaisches Auftreten seine lexikalische Entsprechung. Kunstgeschichtlich fühlt man sich in den Biedermeier, literarisch in den Ästhetizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts versetzt und würde sich daher nicht wundern, wenn Oscar Wilde irgendwo um die Ecke käme. Vor Arno Schmidt verneigt der Autor sich mit dem letzten Kapitel „Zetteltraum“. Schmidts Behauptung, „die Welt der Kunst & Fantasie“ sei „die wahre“, würden Carl & Co. sicher begeistert zustimmen.

All das macht „Spitzweg“ zum idealen Vehikel des Eskapismus: Der Roman ermöglicht die gedankliche Flucht aus einer Welt, die vielen mit ihrer technokratischen Vereinnahmung und digitalen Durchdringung existentielles Unbehagen bereitet. „Aber so ist unsere gegenwärtige Kultur eben“, heißt es demgemäß etwa in Nickels Buch. „Überall muß sie ihre häßlichen Spuren hinterlassen.“

„Kurios, kurios“ hätte wohl der alte Johann Buddenbrook dieses Buch genannt. Und wie ließe sich ein so kunstverliebtes Werk wie dieses besser beschreiben als mit einem Zitat aus dem Universum geschriebener Kunstwerke?

Eckhart Nickel: Spitzweg. Roman. Piper Verlag, München 2022, gebunden, 256 Seiten, 22 Euro