© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

Wende des Weltkrieges von unten gesehen
Peter Englunds Buch über den November 1942 zeigt, wie dieser auf unterschiedlichste Weise erlebt wurde
Dag Krienen

Der schwedische Autor Peter Englund, geboren 1957, ist ein Multitalent. Schon während seines Studiums arbeitete er als Analyst für den schwedischen Geheimdienst und verfaßte ein Buch über die entscheidende Schlacht von Poltawa 1709 im Großen Nordischen Krieg. Nach seiner Promotion als Historiker 1989 arbeitete er als Kriegskorrespondent für eine schwedische Zeitschrift auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak. Zugleich verfaßte er historische Bücher und Essays sowie auch Drehbücher und betätigte sich als Kommentator in Fernsehdokumentationen sowie als Entwickler von Brettspielen. Englund besitzt einen publikumsfreundlichen Schreibstil, der ihm mehrere schwedische Literaturpreise sowie einen Lehrauftrag für historische Narratologie am Dramatischen Institut in Stockholm eintrug. 2002 wurde er schließlich auch zum Mitglied der Schwedischen Akademie erwählt, die den Literaturnobelpreis verleiht.

Geschichte aus der Perspektive der kleinen Leute geboten

Englund hat sich auf die „Geschichte von unten“ spezialisiert, den Blick auf große historische Ereignisse aus der Perspektive der kleinen Leute, die jene weitestgehend passiv erleiden mußten, statt aktiv auf sie einwirken zu können. Auch bei dem hier zu rezensierenden Buch über den November 1942 handelt es sich um eine arrangierte Sammlung von vielen Einzelerlebnissen. Ein historisches Fachbuch im strengen Sinne ist es nicht. Zwar enthält es eine dramatis personae, ein Verzeichnis der Personen, von deren Schicksal im November 1942 erzählt wird, doch auf welche Quellen sich Englund dabei im einzelnen stützt, bleibt vielfach unklar. Im Literatur- und Quellenverzeichnis läßt sich nicht für jeden eine eindeutige Buch- oder Internetquelle finden. Der Anmerkungsapparat dient nicht dem Nachweis der jeweils benutzten Quellen, sondern der Erläuterung des historischen und militärischen Kontextes der jeweils beschriebenen Erlebnisse. Die Versicherung des Autors, „nichts hinzugefügt zu haben“, bleibt unüberprüfbar. Auch wenn er sich zweifellos an die überlieferten Fakten hält und gelegentlich nicht genauer belegte Originalzitate einfügt, ist es er selbst, der in dem ihm eigenen literarischen Stil die jeweiligen Erlebnisse nacherzählt.

„Momentum“ ist so ein Buch über das Schicksal von vierzig Menschen, das eher als historische Literatur denn als historisches Fachbuch gelten muß. Der Anspruch Englunds, „etwas darüber zu sagen, wie der Krieg war“, ist dennoch nicht ganz falsch, da man wohl nur auf literarischem Weg diesem Anspruch überhaupt entsprechen kann und sein Buch es in gewissen Grenzen auch tut.

In den chronologisch geordneten und jeweils in kleinen Häppchen erfolgenden Erzählungen stehen nicht die militärischen Ereignisse und Akteure im Vordergrund. Der schwedische Originaltitel lautet: „Träume von bösen Nächten“. Der deutsche Untertitel: „wie sich das Schicksal der Welt entschied“, ist irreführend, da es hier eben nicht um das Wie der Kriegsentscheidung geht. Der Krieg war für Deutschland, Italien und Japan schon nach dem Scheitern ihrer weitgreifenden Vorstöße zur Errichtung blockadefester Großräume im Spätsommer 1942 verloren bzw. nicht mehr zu gewinnen. Manche deutschen Offiziere ahnten dies, wie im Buch überliefert, bereits. Aber erst im Laufe des Monats November war die militärische Wende an allen Fronten – in Rußland, Nordafrika und im Pazifik – auch für größere Kreise auf beiden Seiten allmählich zu erahnen. Allerdings wurde sie bei weitem nicht von allen und schon gar nicht von jedem mit aller Deutlichkeit erkannt, sondern in allen Abstufungen von der oft nur vagen Hoffnung oder Befürchtung bis zur Ignoranz und dem Fortführen des jeweiligen business as usual. Wie unterschiedlich diese Wende erlebt wurde, ist das Kernthema von „Momentum“. 

Die Spannbreite der geschilderten Einzelerlebnisse ist groß. Dabei spielt weniger Prominenz eine Rolle, die von Ernst Jünger, Sophie Scholl, Albert Camus und Lidija Ginsburg bis zur kleinen koreanischen Zwangsprostituierten in einem japanischen Bordell in Burma reicht. Wichtiger sind die Bandbreite der Erlebnisorte – Front, Hinterland, Heimat und KZ oder Kriegsgefangenlager – und der Lebensumstände und Schicksale. Diese reicht von einfachen Frontsoldaten aller Seiten (sowohl an ruhigen Abschnitten als auch an den Brennpunkten) bis zu Partisanen und Journalisten hinter den Fronten; von Zivilisten in relativ großer Sicherheit und Komfort wie einer US-amerikanischen Hausfrau bis zum „Totenjuden“ im Vernichtungslager Treblinka, der durch das Extrahieren von Goldzähnen aus den Mündern der Ermordeten sein Überleben in der Hölle sichern muß. Englunds Buch entfaltet ein breites Panorama von erzählten Erlebnissen in einer politischen und militärischen Umwelt, die damals für die meisten Handelnden nahezu undurchschaubar war. Dem Leser vermittelt es auf diese Weise einen bleibenden Eindruck davon, auf wie unterschiedliche Weise dieser Krieg und seine Wendepunkt erlebt wurden. Insoweit können die zusammengefaßten Erzählungen über die Erlebnisse von vierzig Menschen im November 1942 als dem Moment, als die große militärische Wende im Zweiten Weltkrieg sowohl in der Sowjetunion, in Nord-afrika und im Pazifik stattfand, mit Gewinn von historisch Versierten wie Unversierten gelesen werden.

Englund kommt ohne moralische Verurteilungen aus

Es sei noch erwähnt, daß Englunds Sympathien auf alliierter Seite liegen, er aber auch, wenn auch etwas distanzierter, die Erlebnisse von Deutschen, Italienern und Japanern mit Einfühlungsvermögen und ohne moralische Verurteilungen wiedergibt. Seine umfangreichen Anmerkungen dienen dafür nicht dem Quellennachweis, sondern der Erläuterung der in dem jeweiligen, subjektiv gehaltenen Erlebnistext erwähnten Ereignisse und Details, die Englund meist kundig und allgemeinverständlich zu erläutern versteht. Nur in einzelnen waffentechnischen und -taktischen Fragen zeigt er – oder vielleicht auch nur die Übersetzung – gelegentliche Schwächen.

Peter Englund:  Momentum: November 1942 – wie sich das Schicksal der Welt entschied. Rowohlt Verlag, Berlin 2022, gebunden, 672 Seiten, 35 Euro