© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

Sie sind besser als ihr Ruf
Verschwörungstheoretiker: Unter vielen „Esoterik-Spinnern“ entdecken Wissenschaftler auch Menschen mit Antennen für kommendes Unheil
Oliver Busch

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ist derzeit Deutschlands bekannteste Verschwörungsmythologin. Wer sonst wäre in der letzten Woche auf die Idee gekommen, die größte Razzia in der Geschichte der Bundesrepublik zu starten, dafür 3.000 Polizisten und paramilitärische Sondereinsatzkräfte zu mobilisieren, um gegen die „Reichsbürger“-Szene vorzugehen, deren Anhänger sich angeblich zu dem Zweck verschworen hätten, die staatliche Ordnung der Berliner Republik gewaltsam umzustürzen. Selbst wenn das bei der Aktion festgesetzte Häuflein von 25 Beschuldigten derartige größenwahnsinnige Ziele beabsichtigt haben sollte, stellt sich doch ernsthaft die Frage, ob die obskure Seniorenriege um Prinz Heinrich XIII. Reuß in der Lage gewesen wäre, die Bundesrepublik aus den Angeln zu heben. 

Aber egal, ob inner- oder außerhalb des Bundeskabinetts: Verschwörungstheorien sind wieder in Mode. Auch Wissenschaftler zeigen daher weniger Berührungsängste und wagen betont sachliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen. So fragen der Wissenschaftsjournalist Rüdiger Vaas, der Verwaltungswissenschaftler Michael W. Busch (Wien) und der Amerikanist Michael Butter (Tübingen) in einem Themenheft der Monatszeitschrift Universitas (10/2022) danach, ob es sich bei Verschwörungstheorien um berechtigte Gesellschaftskritik, Religionsersatz, Ablenkung rebellischer Geister, reale Bedrohung oder vielleicht um den Vorschein auf kommende Konfliktkonstellationen handelt.

Hinter die Fassade der Wirklichkeit zu schauen, was wirklich geschieht

Rüdiger Vaas holt dabei mit seinen „erkenntnistheoretischen Erkundungen an den Grenzen von Wahrheit und Täuschung“ philosophisch und ideenhistorisch am weitesten aus, spinnt den Faden von den antiken Skeptikern bis zum Kritischen Rationalismus Karl R. Poppers. Um zu beweisen, daß der an Poppers Erkenntnislehre gemessene Verschwörungsglaube eben kein radikaler Skeptizismus ist, weil er nicht auf letztbegründetes dogmatisches Wissen verzichte. Wie der Skeptiker beginne der Verschwörungstheoretiker zwar damit, hinter die Fassade der Wirklichkeit zu schauen, um zu erkennen, was wirklich geschieht. Doch fragt er nicht unvoreingenommen nach der Wahrheit, weil er davon ausgeht, daß nichts durch Zufall geschehe, sondern alles mit allem zusammenhänge, Ereignisse, Institutionen und Personen und deren Beziehungen nur vom archimedischen Punkt einer Verschwörung aus zu begreifen seien. Damit lasse sein Welterklärungsmodell die rationale Argumentation hinter sich und gerinne zur dogmatischen Ideologie. 

Michael W. Busch billigt Verschwörungstheorien weitaus größeren intellektuellen Kredit zu. Weil gerade in der jüngsten Vergangenheit viele im nachhinein sich als zutreffende Beschreibung politischer Realitäten erwiesen hätten. So prognostizierten Crash-Propheten wie Markus Krall und Max Otte, daß der Staat am Ende des Wertverfalls des Euro dazu übergehen werde, „Helikopter-Geld“ zu verteilen. Heute, im Zeichen des Bürgergeldes, hält das niemand mehr für ein Phantasma. Ebenso wird, wie von vermeintlichen „Aluhutträgern“ exakt vorhergesagt, der Überwachungsstaat perfektioniert. Natürlich gebe es unter Verschwörungsgläubigen zuhauf „Querdenker, Schwurbler, Esoterik-Spinner“. Aber auch solche, die Antennen für Entwicklungen haben, die für die Mehrheit ihrer Zeitgenossen noch unvorstellbar sind. Solche in Umbruchzeiten vermehrt auftretenden Regenpfeifer sollten als intellektuelle Herausforderung akzeptiert und nicht, angesichts der knapper werdenden Güter Allgemeinbildung, Politik- und Geschichtsverständnis, durch die Allianz von Verfassungsschutz und Gesinnungsjournalismus kriminalisiert werden.

Auch Michael Butter ist zumindest streckenweise um eine differenzierte Sicht auf Verschwörungsgläubige bemüht. Erhellend ist sein Hinweis auf den Unterschied zwischen echten und geglaubten Verschwörungen. Erstere verlaufen nie nach Plan. Musterbeispiel ist für ihn die Ermordung von Julius Cäsar, die den Weg zurück in die römische Republik freimachen sollte, tatsächlich aber einen Bürgerkrieg auslöste, an dessen Ende Octavian als Kaiser Augustus zum Alleinherrscher aufrückte. Wichtig ist auch Butters Beobachtung, daß Verschwörungstheorien keine anthropologische Konstante sind, obwohl es Vorformen im antiken Athen und Rom gab. Doch das Mittelalter kam mit dem dominierenden Jenseitsbezug ohne sie aus. Die Voraussetzungen für ihre moderne Ausprägung bildeten sich erst im Übergang zur Frühen Neuzeit heraus. Als der Glaube an Gottes Allmacht schwand und zugleich das Zutrauen in die menschliche Handlungsfähigkeit wuchs, während die Erfindung des Buchdrucks und die langsame Alphabetisierung der Bevölkerung ihren Resonanzboden erheblich verbreiterte.

Hätte man, so behauptet Butter aufgrund einiger Zitate von Abraham Lincoln, Winston Churchill, Samuel Morse und Thomas Mann, allesamt „Verschwörungsgläubige“, zwischen 1820 und 1920 Meinungsumfragen veranstaltet, wäre mit Wahrscheinlichkeit zutage getreten, daß in Europa und Nordamerika weit über 80 Prozent damals gängigen Verschwörungstheorien zustimmten, sie also in der „Mitte der Gesellschaft“ fest verankert waren. Bei diesem Gedankenspiel drängt sich ein Vergleich sozialer Kontexte von Verschwörungstheorien in Vergangenheit und Gegenwart auf. Sind sie heute eine Waffe der „Modernisierungsverlierer“, die sie gegen „die da oben“ richten, die sich gegen das „Volk“ verschworen hätten, konzentrierten sich Verschwörungserzählungen bis zum Ersten Weltkrieg auf Umstürzler „von unten“, Kommunisten, Anarchisten, Juden, die gegen die soziale Ordnung der Klassengesellschaft oder für ihre Emanzipation rebellierten. 

Berater Orbáns haben Theorie vom „Großen Austausch“ erfunden

Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtet Butter eine zunehmende Problematisierung verschwörungstheoretischer Deutungsangebote, was als Reaktion auf die „konspirationistische Anti-Kommunistenhetze“ in den USA während der McCarthy-Ära zu verstehen sei. In den Jahren danach galten Verschwörungsgläubige gemeinhin als „Geisteskranke“. Eine Ausgrenzung, die allerdings in den 1990ern endete, als das Aufkommen des Internet die Sichtbarkeit und Verfügbarkeit von Verschwörungstheorien schlagartig erhöhte. Nach jüngsten Umfragen ist daher wieder ein Viertel bis maximal ein Drittel der Deutschen für Verschwörungstheorien empfänglich. 

Ungeachtet mancher wertvoller Einsichten Butters zeigt die Studie auch kraß die Grenzen dieses Analytikers auf: Der „Große Austausch“ ist für ihn kein Komplott, an dem der US-Milliardär George Soros sich beteiligt, sondern eine Verschwörungstheorie, die von Beratern des ungarischen Premiers Viktor Orbán „erfunden“ worden sei.