© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

„Entmutigung für Investitionen“
Finanzstabilisierungsgesetz verschärft den deutschen Medikamentenmangel / Sorge um innovative Arzneimittel
Jörg Schierholz

Antibiotika, Antidepressiva, Blutdruck- und Cholesterinsenker, Fiebersäfte, Hustenmittel, Magensäureblocker und Schmerzstiller – etwa 300 Medikamente sind derzeit nur eingeschränkt oder gar nicht mehr lieferbar. Selbst Krebsmedikamente und Mittel zur Behandlung schwerster Erkrankungen in Kliniken finden sich in den Lieferengpaßmeldungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Und diese Misere ist selbstverschuldet: Zwei Drittel der Produktionsorte von Arzneiwirkstoffen liegen inzwischen Asien. Kommt es dort zu Produktionsproblemen, trifft das auch Deutschland und Europa.

Und mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) wird es nicht besser, sondern schlimmer. Damit will die Ampel das für 2023 erwartete 17-Milliarden-Euro-Defizit der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) ausgleichen. Es gibt ein Preismoratorium für Arzneimittel bis Ende 2026 sowie neue Zwangsrabatte und Preisobergrenzen. Hersteller von pharmakologischen „Schrittinnovationen“, also kleinerer Fortschritte in der Behandlung, sollen keine höheren Preise als eine billigere Vergleichstherapie verlangen dürfen. Für Kombinationstherapien mit mehreren Medikamenten, wie sie etwa bei der Behandlung von Krebs üblich sind, sollen Preisabschläge gelten.

Unzeitgemäße Regularien im Nutzenbewertungssystem?

Die schärferen AMNOG-Leitplanken werden innovativen Arzneimitteln, denen der Gemeinsame Bundesausschuß (G-BA) von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen einen nicht quantifizierbaren oder geringen Zusatznutzen attestiert hat, künftig eine systematische Abwertung bescheren. AMNOG steht für das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, das seit 2011 die Preise für neue, patentgeschützte Arzneimittel auf Basis einer Zusatznutzenbewertung bestimmt. Ziel ist, für möglichst viele neue Medikament nicht mehr zu zahlen als für eine vorher festgelegte Vergleichstherapie. Die die damit ausgeklammerten „Schrittinnovationen“ tragen aber dazu bei, eine Therapie durch eine verbesserte Verträglichkeit, einfachere Handhabung oder erhöhten therapeutischen Nutzen zu optimieren.

Was damit gemeint ist, erklärt anschaulich Sabine Nikolaus, Landesleiterin Deutschland bei Boehringer Ingelheim, am Beispiel der Aids-Therapie: „Hier ist es durch Schrittinnovationen gelungen, daß sich HIV über Jahre hinweg von einer tödlichen Erkrankung zu einer chronischen Krankheit mit langen Überlebenschancen entwickelt hat.“ Das GKV-FinStG sei eine „Entmutigung für Investitionen in Deutschland“. Laut Chantal Friebertshäuser, Deutschland-Chefin des US-Konzerns Merck Sharp & Dohme (MSD), werden Schrittinnovationen, die die Überlebenszeit von Patienten steigern, bei der Preisfestsetzung nicht mehr honoriert und man müsse sich die Frage stellen, „ob so innovative Medikamente noch wie bisher auf den Markt gebracht werden können“. Die Pharmaindustrie trage die Hauptlast der FinStG-Einsparungen, stehe aber nur für zwölf Prozent der GKV-Ausgaben, sagt Heinrich Moisa, Geschäftsführer von Novartis Deutschland.

Da in den AMNOG-Leitplanken nur ein Bruchteil neuer Arzneimittel mit einem „beträchtlichen“ oder „erheblichen“ Nutzen bewertet wird, würden nur noch 20 Prozent der neuen Arzneimittel zur Verfügung stehen, warnt Rolf-Detlef Treede (Uni Mannheim), Präsident der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Janssen Biotech hat schon reagiert und sein Lungenkrebsmedikament Rybrevant (ein monoklonaler Antikörper) in Deutschland vom Markt genommen. Die Einführung des Medikaments Tecvayli gegen bösartige Knochenmarkerkrankungen (Multiples Myelom) wurde verschoben. Begründung: „Methodische, nicht zeitgemäße Regularien im deutschen Nutzenbewertungssystem, die den Mehrwert der Therapie mit den zum jetzigen Zeitpunkt vorhandenen Daten nicht abbilden können“, so die Konzernleitung.

Ungeachtet gravierender Arzneimittelengpässe destabilisiere der erhöhte Kostendruck durch das GKV-FinStG die Versorgungssicherheit von Generika, also Nachahmer-Medikamenten ohne Patentschutz, klagt auch der Branchenverband Pro Generika. Diese günstigen Alternativen stellen nahezu 90 Prozent aller ärztlichen Verordnungen. Sprich: Die Engpässe bei Arzneimitteln werden zunehmen. Nahezu alle Anbieter haben die Produktion von Fiebersaft für Kinder eingestellt, weil die Herstellung aufgrund der Festbeträge und des Drucks der Kassen nicht mehr wirtschaftlich ist. Während aktuell ein Hersteller nahezu die gesamte Versorgung in Deutschland sicherstellen müsse, hat es vor zwölf Jahren noch elf Anbieter flüssiger Paracetamol-Zubereitungen gegeben.

Laut Branchenverband verharren die Festbeträge, die für die Medikamente gezahlt werden, seit zehn Jahren auf demselben Niveau – bei gleichzeitig steigenden Preisen für Energie, Logistik und Wirkstoffe. Probleme gibt es nun daher auch bei gängigen Mitteln gegen Bluthochdruck und Diabetes. Schmerzmittel wie Ibuprofen sind zeitweise nicht erhältlich. Im April und im Mai führte der absolute Mangel am Brustkrebsmittel Tamoxifen zu schwer kalkulierenden Gesundheitsgefährdungen der betroffenen Frauen. Als Reaktion auf den Mangel hatten die deutschen Behörden unter anderem empfohlen, kleinere Packungen zu vergeben.

Weitere Ursachen für die Arzneimittelengpässe sind Lieferkettenabrisse, da die Wirkstoffe vor allem in China und Indien hergestellt werden. Die können aber bei coronabedingt geschlossenen Fabriken oder auch wegen Verunreinigungen bei der Herstellung nicht geliefert werden. Die langjährige Forderung nach Rückholung einer nationalen Wirkstoffproduktion ist genauso alt wie der unaufhaltsame Prozeß der Abwanderung der Pharmaindustrie, die in Deutschland vor 40 Jahren noch als „Apotheke der Welt“ Innovationen generierte.

Teures EU-Bürokratiemonster „Medical Device Regulation“

Die globale Pharmabranche kann hingegen nach einem Rekordjahr mit 46 neu eingeführten Wirkstoffen 2021 mit vielen Innovationen aufwarten, etwa bei Krebs oder Infektions- und Entzündungskrankheiten. „Marktaustritte“ wie bei Janssens Rybrevant sind bislang zwar die Ausnahme. Seit 2017 wurden nur acht Medikamente nach dem Durchlaufen des AMNOG-Verfahrens von Pharmaunternehmen vom Markt genommen – bei mehr als 200 Neueinführungen. Doch bei der neuen Gesetzeslage werden es deutlich mehr werden.

Und eine weitere Mangelsituation bahnt sich an: durch das seit 2021 geltende Bürokratiemonster Medical Device Regulation (MDR; EU-Verordnung 2017/745 über Medizinprodukte). Neue Medizinprodukte (Absauger, Blutdruckmesser, Defibrillatoren, Infusionsgeräte, Prothesen, Überwachungsmonitore) müssen eine neue und teurere „Konformitätsbewertung“ durchlaufen. Und ältere Produkte, deren Zertifikate abgelaufen sind, benötigen ebenfalls eine ganz neue MDR-Bewertung – und das führt unweigerlich zu Engpässen in der Chirurgie und Notfallmedizin. Ohne Nachbesserung wird es letztlich zum Wegfallen der Mehrzahl vieler bewährter Medizinprodukte führen – mit katastrophalen Auswirkungen auf die europäische Patientenversorgung.

GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG): aok-bv.de

Lieferengpaß-Datenbank des BfArM: anwendungen.pharmnet-bund.de

Foto: Mitarbeiter in der Reinraum-Anlage für die Abfüllung des Spastik-Medikaments Xeomin der Merz Group: Deutschland ist längst nicht mehr „Apotheke der Welt“