© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

„Das dunkle Zeitalter bestehen“
Interview: Rod Dreher sieht das Ende unserer Kultur und Demokratie voraus. Doch mit seinem Bestseller „Die Benedikt-Option“ will der christliche Journalist Mut machen, nicht zu kapitulieren
Moritz Schwarz

Herr Dreher, was ist die „Benedikt-Option“?

Rod Dreher: Der Versuch, Menschen Hoffnung zu geben. 

Das paßt ja gut zu Weihnachten. 

Dreher: Weihnachten ist, das vergessen wir oft, der Sieg des Lichts über die Finsternis. 

Welche „Finsternis“ sehen Sie?

Dreher: Wir erleben eine Zeit, in der selbst der Klerus nicht an die Wahrheit der Verkündigung zu glauben scheint. Schauen Sie sich etwa die deutschen katholischen Bischöfe an. Was für eine bizarre pseudochristliche Religion bieten sie da an? Viele sind totale Konformisten, die zu meinen scheinen, das Christentum wäre ein Glaubensbekenntnis für liberale NGOs. Jedoch ist auch wahr, daß vielen Christen, die noch zur Kirche gehen, der Glaube kaum mehr ist als Moralismus und psychologische Aufmunterung. Wir alle haben uns von dem entfernt, was das Christentum eigentlich ist. 

Inwiefern?

Dreher: Christian Smith, ein führender Religionssoziologe, hat festgestellt, daß die tatsächliche Religion der meisten Amerikaner unter Vierzig ein „moralistisch-therapeutischer Deismus“ ist: ein pseudochristlicher Glaube, laut dem Gott will, daß wir glücklich und nett sind und daß nur wirklich böse Menschen, wie Hitler, in die Hölle kommen.

Und was meinen Sie?

Dreher: Ich glaube auch, daß Gott unser Glück will, aber mehr noch, er will, daß wir gut sind. Gott will, daß wir nett sind – aber nicht auf Kosten von Wahrheit und Tugend. Das traditionelle Christentum, wie es von allen Kirchen gelehrt wird, betrachtet das Böse als real und lehrt, daß jeder von Gott gerichtet wird. Viele Christen aber wollen das nicht mehr glauben. Richard Niebuhr, der protestantische Theologe des 20. Jahrhunderts, definierte das liberale Christentum treffend: „Ein Gott ohne Zorn hat die Menschen ohne Sünde in ein Reich ohne Gericht gebracht, durch das Wirken eines Christus ohne Kreuz.“

In Deutschland ordnet man solche Worte eher einem Sektenprediger zu als einem Journalisten und Bestsellerautor. Warum haben Ihre Bücher solchen Erfolg?

Dreher: Ich glaube, weil ich ein ernstes Problem diagnostiziere, das viele spüren, aber nicht artikulieren können. Und ich biete eine Lösung an, zumindest ein Teillösung. Meine letzten beiden Bücher haben sich in der Tat sehr gut verkauft und wurden in über zehn Sprachen übersetzt. Doch gibt es einen Unterschied zwischen meinem amerikanischen und meinem europäischen Publikum. Bei uns muß ich härter arbeiten, um davon zu überzeugen, daß das Christentum im Niedergang ist, während man in Europa seit Generationen die Entchristlichung kennt.

Wie haben Sie das erkannt, wenn so viele US-Christen dafür blind sind?

Dreher: 2005 habe ich Alasdair MacIntyres „Der Verlust der Tugend“ gelesen, eine kulturelle Analyse, laut der der moderne Westen seine gemeinsame kulturelle Grundlage verloren hat, die im Christentum bestand, weshalb unsere Gesellschaft ins Chaos stürzt. MacIntyre war zu dieser Zeit übrigens kein Christ, sondern schrieb rein philosophisch, er half mir aber, viele Phänomene zu verstehen. Zusammen mit dem erwähnten Christian Smith öffneten mir beide Bücher die Augen dafür, daß mein Land nicht christlich, sondern postchristlich und daß es sich darüber nicht im klaren ist.

Sie wurden in eine methodistische Familie heineingeboren. Wann fiel Ihnen auf, daß etwas nicht stimmt?

Dreher: Nun, das Glaubensleben meiner Familie bestand nur darin, Weihnachten und Ostern zur Kirche zu gehen. Erst in meinen Zwanzigern entdeckte ich das Christentum und konvertierte zum Katholizismus. Ein Jahrzehnt lang war ich leidenschaftlicher Katholik, bis ich als Journalist über den Mißbrauchsskandal schrieb. Mein Glaube hat, was ich da erfuhr, nicht überlebt. 

Warum nicht? 

Dreher: Weil, wie ich erkannte, mein katholischer Glaube zu intellektuell war und ich die institutionelle Kirche idealisierte. So wurde ich 2006 als „Schiffbrüchiger“ an die Küste der Orthodoxie gespült. Dabei glaube ich nicht, daß die orthodoxe Kirche ohne Sünde ist, aber sie ist eine wahre Kirche, mit gültigen Sakramenten und schönen Liturgien. Ich mußte Gott aber geloben, den Glauben bescheidener anzugehen und Kirchenpolitik zu meiden. Nun, das hat sich bewährt. Ich sehe meine Rolle darin, Brücken zwischen Katholiken, Orthodoxen und Protestanten zu bauen.

Für Ihr Buch haben Sie Menschen aus der Sowjetunion interviewt. Was hat das mit Christentum zu tun?

Dreher: Die Idee zu dem Buch stammt von Leuten, die dem Sowjetkommunismus entkamen und die nun sehen, daß in den USA Dinge geschehen, die an das erinnern, was sie hinter sich gelassen haben. Als ich das erstmals hörte, schien es mir übertrieben. Totalitarismus? Wo sind die Gulags, die Geheimpolizei, die staatliche Zensur? Doch je mehr ich nachdachte, desto mehr verstand ich, daß sie etwas Reales sahen, das wir nicht sehen. Sie beobachteten, wie die liberale Demokratie ausgehöhlt, ihre Institutionen linkem Illiberalismus überlassen wurden. Diese neue Ideologie, die „Wokeness“, ist besessen von Rasse, Geschlecht und radikalem kulturellen Egalitarismus. Es ist Marxismus, der sich in der Kultur ausdrückt, nicht mehr in der Wirtschaft. Inzwischen hat sie jede wichtige Institution im amerikanischen Leben erobert, vor allem das Big Business, weshalb sie so mächtig ist. Heute gilt nur noch eine Art zu denken als erlaubt – wer davon abweicht, riskiert Job, Bankkonto und droht an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden etc.

Aber kämpfen nicht etliche US-Kirchen dagegen an?

Dreher: Die Kirchen bei uns sind gespalten, in Konservative und Liberale. Diese kämpfen für LGBTQ und gegen „Rassismus“, haben aber keinen Einfluß. Konservative Kirchen fürchten meist, sich gegen die sexuelle Revolution zu stellen, weil viele in ihren Kirchenbänken kompromittiert sind. Anstatt die Mittelschicht mit ihren Werten zu prägen, übernehmen sie nun deren Werte, sind also nicht länger christlich, sondern Institutionen der Mittelschicht – mit angeschlossenem Gebet. Zudem fürchten bürgerliche Christen, als Fanatiker zu gelten und um ihren sozialen Status. Einige evangelikale Kirchen führen den Kulturkampf, um Donald Trump zu helfen. Doch halte ich das für Betrug. Diese Art konservativer Christen, meist ältere Leute, wollen glauben, alle Probleme wären gelöst, wenn man die Republikaner wählt.

Sie fordern das Christentum als „starke Kraft gegen radikalen Individualismus und Säkularismus“. Wo lesen Sie das eigentlich heraus? Weder die Zehn Gebote noch die Bergpredigt bieten ein politisches Programm, und Jesus sagt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.“

Dreher: Was würde Dietrich Bonhoeffer zu Ihrer Frage sagen? Man kann Religion und Leben nicht trennen. In den USA sind konservative Christen meist sehr mit persönlicher Ethik befaßt, sie denken aber ungern über die soziale Wirkung der Lehre nach. Liberale Christen tun das Gegenteil, sie bekämpfen Armut und Rassismus, was richtig ist, wollen aber nicht darüber nachdenken, wie sie persönlich leben. Das Christentum erlaubt es aber nicht, gleichgültig zu sein – weder gegenüber der Gesellschaft noch gegenüber der eigenen Lebensführung. Ich stamme aus dem Süden, wo Rassismus sogar in Gesetzen verankert war. Als Martin Luther King mit anderen dagegen auftrat, sagten weiße Pastoren, die Religion solle sich aus der Politik heraushalten. Später sagten die Liberalen dasselbe, als Christen sich für den Schutz Ungeborener einsetzten. Der christliche Glaube schreibt, anders als der Islam, kein politisches Programm vor. Aber ich glaube, daß ein nur persönliches, privates Christentum eine deformierte Version des Glaubens ist. 

Woraus für Sie also was ganz konkret folgt? 

Dreher: Das Christentum gibt uns ein klares Beispiel, was es heißt, Mensch zu sein. Die römische Welt war unglaublich grausam: Sklaverei, Prostitution, Päderastie. Römer hatten gar das Recht, Sklaven zu vergewaltigen. Das Christentum änderte all das, denn es bot einen ganz anderen Blick auf den Menschen. Der britische Historiker Tom Holland zeigt, daß das Konzept der Menschenrechte, das wir für selbstverständlich halten, ganz auf das Christentum zurückgeht. Heute lehnen viele Christen Abtreibung und Todesstrafe ab, weil unser Glaube uns sagt, was menschliches Leben ist. Unser wichtigster Auftrag ist natürlich, das Evangelium zu verkünden und andere zu bekehren. Politisch und gesellschaftlich aber sehe ich ihn darin, für Menschenwürde zu kämpfen, die bedroht ist durch Gewalt, Euthanasie, Abtreibung, Todesstrafe, Armut, Prostitution, Pornographie, Transhumanismus etc. 

Und dieser Auftrag ist Ihre „Benedikt-Option“?

Dreher: Nein. In „Verlust der Tugend“ kommt Mac­Intyre zu dem Schluß, der Westen stehe wie einst Westrom vor dem Untergang. Das Wichtigste sei daher, daß sich tugendhafte Männer und Frauen zu kleinen Gemeinschaften zusammenschließen, damit die Tradition der Tugenden im kommenden dunklen Zeitalter weiter gelebt wird. Er sagte, daß wir „einen neuen – und zweifellos ganz anderen – heiligen Benedikt“ erwarten. Wir traditionellen Christen stehen vor der Wahl: entweder normal an einer postchristlichen Gesellschaft teilzuhaben und zuzusehen, wie sich unser Glaube durch Assimilation auflöst, oder uns in gewisser Weise als „getrennt“ zu betrachten, einander zu helfen, unseren Glauben in einer feindlichen Kultur authentisch zu leben.

Das klingt nach Bildung einer Sekte.

Dreher: Für postchristliche Augen mag es so scheinen, doch ist das ganz normales, traditionelles Christentum. Leute, die „Die Benedikt-Option“ nicht gelesen haben, meinen oft, ich riefe Christen dazu auf, sich in den Bergen zu verstecken. Unsinn, es gibt keinen Ausweg aus der Moderne – außer man lebt wie die Amischen, was ja fast niemand will. Die benediktinische Option besagt vielmehr: Wer in der nachchristlichen Welt authentisch christlich sein will, muß ganz anders leben als der Rest der Welt und vielleicht auch, als er es heute tut. Ich nehme das Modell der Benediktinermönche und passe es an das Leben der Laien in der Welt an. Es geht darum, das Verständnis für unsere Glaubenslehre zu vertiefen, traditionelle spirituelle Disziplinen zu stärken und kräftigere Bindungen zwischen Familien und Gemeinschaften aufzubauen, für eine christliche Lebensweise, die widerstandsfähig ist und sowohl leichte als auch schwere Verfolgung ertragen kann. 

In Ihrem 2023 bei uns erscheinenden Buch „Lebt nicht die Lügen! Eine Gebrauchsanweisung“ warnen Sie vor einem „sanften Totalitarismus“. Wieso „sanft“?

Dreher: Wir denken bei Totalitarismus an Orwells „1984“, doch ähnelt er dem in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, beruht also nicht auf Angst und Schrecken, sondern auf Manipulation durch Komfort und Status. Wir sehen doch, wie bereitwillig die Leute Freiheit für Sicherheit und Bequemlichkeit aufgeben. Christian Smith fand heraus, daß die meisten christlichen jungen Erwachsenen der USA den Lebenssinn in Glück und Erfolg sehen. Damit sind sie ideale Subjekte eines sanften Totalitarismus! Liest man Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, stellt man schockiert fest, wie viel wir mit dem vornazistischen Deutschland und dem vorbolschewistischen Rußland gemein haben. Vor allem in bezug auf die radikale Atomisierung der Gesellschaft und den Verlust des Vertrauens in die Institutionen. Was wir nicht erkennen, ist, daß Totalitarismus keinen Einparteienstaat braucht. Werden alle wichtigen Institutionen von einer intoleranten, antiliberalen Ideologie vereinnahmt, entsteht er auch. Sicher, als „Gedankenverbrecher“ den Job zu verlieren ist nicht so schlimm wie Sibirien. Aber es kann immer noch schwerwiegend genug sein, um Angst davor einzuflößen, Abweichendes zu denken. Das ist es, was wir heute bei uns beobachten.

Und Sie sehen nur ein Überleben, kein Entkommen?

Dreher: Nein. Ich glaube, wir Christen müssen uns darauf vorbereiten, heute einer wahnsinnigen Linken, morgen vielleicht einer wahnsinnigen Rechten zu widerstehen. Doch vor allem: Wo immer das Internet ist, gebiert es Wahnsinn. Selbst in Polen höre ich von jungen Katholiken – ernsthaften Katholiken –, daß ihr Land den Weg Irlands geht, bis zum Glaubensabfall. Ein Gymnasiallehrer erklärte mir, den bei weitem größten Einfluß auf das Denken junger Polen hätten soziale Medien. Nicht die Familie, nicht die Kirche, schon gar nicht der Staat, nein das Internet! Es macht mich krank zu sehen, wie mein eigenes Land Quell für so viel Böses ist, das Menschen auf der ganzen Welt von Traditionen und Kultur trennt und sie zu Sklaven des Internets macht.

Sich dagegen zu wehren empfehlen Sie nicht?

Dreher: Doch natürlich, so wie Viktor Orbán, der sich mutig dagegen wehrt, ungarische Kinder der Gender-Ideologie auszusetzen. Wir sehen in den USA, wie das, was als einfache Kampagne für Toleranz begann, zu einem bösen Plan geworden ist. Lehrer sagen offen, daß sie im Kindergarten diese Ideologie verbreiten, und feiern sich dafür, es vor den Eltern zu verbergen. Orbán setzt dagegen die Macht des Staates ein. Gut so! Doch am Ende reicht nicht einmal diese aus, wenn eine Kultur zu sehr korrumpiert ist. Der Verlust der christlichen Religion – des „Kults“ im Herzen der Kultur – hat das größte Hindernis für die Re-Paganisierung des Westens beseitigt. So müssen wir Christen nun Allianzen bilden, um im neuen dunklen Zeitalter zu bestehen.






Rod Dreher, ist bekannt durch seine Auftritte bei großen US-Nachrichtensendern wie CNN, Fox News oder MSNBC, seine Artikel zum Beispiel für die Washington Times, New York Post, National Review oder das Wall Street Journal sowie seine Bucherfolge, darunter auch die drei New York Times-Bestseller „The Little Way of Ruthie Leming“ (2013), „Die Benedikt-Option. Eine Strategie für Christen in einer nachchristlichen Gesellschaft“, in Deutschland 2019 mit einem Vorwort des Privatsekretärs von Benedikt XVI., Kurienerzbischof Georg Gänswein, veröffentlicht, sowie „Live Not by Lies. A Manual for Christian Dissidents“ (2020), das unter dem geplanten Titel „Lebt nicht die Lügen! Eine Gebrauchsanweisung“ im Frühjahr auf Deutsch erscheinen soll. Zudem ist Dreher, geboren 1967 in Louisiana, leitender Redakteur der Zeitschrift The American Conservative.