© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Krisen ohne Ende, aber keine Wende
Jahresrückblick: Krieg und explodierende Energiepreise bestimmen die Schlagzeilen – ein Virus dagegen kaum noch
Paul Rosen

Zeitenwende. Dieser von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geprägte Begriff wird mit gutem Grund „Wort des Jahres“ 2022. Denn tatsächlich befindet sich Deutschland im harten Griff einer Zeitenwende, die Illusionen einer atom- und kohlefreien Energiezukunft und Hoffnungen auf ein Europa in Frieden wie Seifenblasen platzen läßt. „Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Rußland einbezogen wird“, sagt der am 13. Februar wiedergewählte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Kurz nach seiner Wiederwahl geschieht das Unfaßbare: Russische Truppen marschieren in die Ukraine ein. Der Krieg kehrt nach Europa zurück und rückt sogar an Deutschland heran, als im September in der Ostsee drei Leitungen der Nord-Stream-Gaspipeline gesprengt werden. Wer das zu verantworten hat, ist bis heute unklar. 

Die deutsche Politik reagiert schon kurz nach Angriffsbeginn mit verschiedenen Maßnahmen. Der Kreml soll mit einem Embargo besonders gegen Energielieferungen unter Druck gesetzt werden, während Scholz und seine Ampelkoalition versuchen, die Folgen der Energiepreisexplosion durch Hilfsmaßnahmen für Wirtschaft und Privatleute, ein 9-Euro-Ticket im öffentlichen Nahverkehr und einen Tankrabatt abzumildern. Verantwortlich für Höchstpreise bei Benzin und Diesel (2,32 Euro pro Liter) waren aber nicht nur Embargo-Folgen, sondern auch der durch das Gelddrucken der Europäischen Zentralbank verursachte Niedergang der Euro-Währung und die damit einhergehende massive Inflation.

Ausgerechnet eine Bundesregierung mit den als pazifistische Bewegung gestarteten Grünen legt ein militärisches Beschaffungsprogramm in Höhe von 100 Milliarden Euro auf. Die Grünen schlucken derweil für den Machterhalt weitere Kröten: Sie werben eifrig für Waffenexporte in die Ukraine und damit in ein Kriegsgebiet, und sie nehmen ein Machtwort von Scholz zur Verlängerung der Laufzeiten der letzten drei Atomkraftwerke hin. 

Trotz des Machtworts ist es um die Autorität des Kanzlers eher schlecht bestellt. Der seinerzeitige ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, nennt ihn wegen seiner zögerlichen Haltung bei der Lieferung von schweren Waffen und eines lange hinausgezögerten Staatsbesuchs „beleidigte Leberwurst“ . Beim Besuch des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas macht Scholz eine denkbar unglückliche Figur. Als Abbas Israel beschuldigt, „50 Holocausts“ begangen zu haben, schweigt Scholz zunächst zu diesem ungeheuerlichen Vorwurf. 

Doch haben der Kanzler und die oft streitenden Ampelkoalitionäre leichtes Spiel, da die Opposition nicht auf Touren kommt. Linke und AfD sind lange Zeit intern zerstritten, und der im Januar in einer Urwahl mit fast 95 Prozent zum neuen CDU-Vorsitzenden gewählte Friedrich Merz hat damit zwar eines seiner größten Ziele erreicht, aber seine Wirkung als Fraktionsvorsitzender im Bundestag bleibt begrenzt. Und wenn er einmal einen Pflock einrammt („Sozialtourismus“), rudert er schnell wieder zurück. Blamabel für ihn ist zudem, daß sich ein Teil seiner Fraktion mit einer Erklärung im Bundestag auf die Seite der Asyl- und Einwanderungspolitik der Ampelkoalition stellt.

Fast alle Corona-Maßnahmen lösen sich in Luft auf

Führungswechsel auch bei anderen Parteien: Nach dem Austritt von AfD-Chef Jörg Meuthen wird Alice Weidel Parteichefin neben Tino Chrupalla. Bei den Linken übernimmt der Europapolitiker Martin Schirdewan den Vorsitz neben Janine Wissler. Nachdem Robert Habeck und Annalena Baerbock ins Kabinett aufgerückt sind, werden Ricarda Lang und Omnid Nouripur Grünen-Parteivorsitzende. Trotz mißlungener Auftritte der amateurhaft wirkenden Außenministerin Baerbock und eines unsäglichen Kotaus von Wirtschaftsminister Habeck vor dem Scheich von Katar bei dem Versuch, Erdgas zu kaufen, halten die Grünen im Rennen mit den Sozialdemokraten um den zweiten Platz im deutschen Parteienspektrum hinter der Union weiter mit.

Die vier Landtagswahlen beginnen mit einer Schlappe für die CDU im Saarland, wo die SPD sogar die absolute Mehrheit holt. Die folgenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nord-rhein-Westfalen bestätigen indes die christdemokratischen Amtsinhaber. In Niedersachsen behauptet sich die SPD. Die Grünen stärken ihre Position durch Erhalt oder zusätzliche Regierungsbeteiligungen – mit der Konsequenz, daß im Bundesrat gegen sie gar nichts mehr geht. An ihnen scheint alles abzuprallen. Folgenlos bleibt beispielsweise der Rücktritt von Familienministerin Anne Spiegel. Sie geht, weil sie zuvor als Landesministerin in Rheinland-Pfalz bei der Flut im Ahrtal versagt hatte. Die FDP verliert an Zustimmung, da selbst Wohlmeinende ihrem Vorsitzenden und Bundesfinanzminister Christian Lindner nicht mehr abnehmen, daß angesichts einer dreistelligen Milliarden-Neuverschuldung die Schuldenbremse bald wieder eingehalten werden soll. SPD und Grüne setzen mit dem „Doppel-Wumms“ (Scholz) ein Gießkannen-Ausgabenprogramm zur Energiepreis-Stabilisierung durch. Das Jahr endet mit einer massiven Polizeiaktion gegen sogenannte Reichsbürger, denen Koalitionspolitiker vorwerfen, einen „Putsch“ geplant zu haben.

Verlierer des Jahres ist das Coronavirus. Nachdem die Einführung einer Impfpflicht im Bundestag am 7. April keine Mehrheit findet, lösen sich im Laufe des Jahres die meisten Corona-Schutzmaßnahmen in Luft auf – als ob nichts gewesen wäre.