© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Unter Reichstage
Paul Rosen

Die Tunnelsysteme der Hauptstadt sind eine Welt für sich. Schächte für Stromleitungen verlaufen in 35 Metern Tiefe, und unter allen unterirdischen Bauwerken Berlins dürfte das „Unterirdische Erschließungssystem“ (UES) des Bundestages eines der imposantesten sein. Der Zugang befindet sich kaum erkennbar hinter dem Haus der Bundespressekonferenz in der Reinhardtstraße und vor dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus mit der Bibliothek des Bundestages. Klima-Kleber der „Letzten Generation“ klebten sich kürzlich dort fest – offenbar in der Absicht, den politischen Betrieb zu stören. In die Tunnelanlage selbst gelangten sie nicht.

Fast bräuchte man wie der griechische Sagenheld Theseus im Labyrinth von Knossos ein Wollknäuel, um aus dem weitverzweigten Erschließungssystem wieder herauszufinden. Wer nach gründlicher Kontrolle hineinfahren darf, erreicht zunächst das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, wo Lastwagen Post und Pakete für die Abgeordneten und die Verwaltung entladen. Weiter geht die Fahrt zum Jakob-Kaiser-Haus, wo es ebenfalls Entladeterminals gibt. Wer einer abknickenden Vorfahrt folgt, erreicht hinter einem Zebrastreifen die Tiefgaragenplätze unter dem Reichstagsgebäude. Die zweispurige Hauptstraße führt sogar unter der Spree hindurch.

Um die unterirdischen Parkplätze gibt es heftiges Gerangel zwischen den Anspruchsberechtigten. Viele Parkplätze sind den Dienstwagen des Bundestagspräsidiums und den Fraktionsführungen vorbehalten. Die anderen Plätze werden über Wartelisten der Verwaltung und der Fraktionen vergeben. Jeder Nutzer hatte früher seine persönliche Stellfläche. Das Verfahren führte dazu, daß viele Parkplätze ungenutzt blieben, wenn die Inhaber im Urlaub, krank oder aus sonstigen Gründen nicht anwesend waren. Die Verwaltung führte dann ein Verfahren ein, das man aus der Luftfahrtbranche kennt: Es wurden Überbuchungen zugelassen. So ist die Zahl der Berechtigten größer als die der tatsächlich vorhandenen Parkplätze – ein Verfahren, daß in der Praxis zu funktionieren scheint. 

Auch Fußgänger nutzen das UES recht häufig. Wer beispielsweise vom Jakob-Kaiser-Haus in das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus muß, um die Bibliothek aufzusuchen, in der Bundestags-Postfiliale Briefmarken zu erwerben, eine Fahrkarte an dem für den Bundestag vorbehaltenen Bahnschalter zu kaufen oder im Reisebüro des Bundestags einen Flug zu buchen, ist gerade in der kalten Jahreszeit gut beraten, den Weg durch das weitverzweigte Tunnelsystem zu nehmen, statt vom Paul-Löbe-Haus über eine Fußgängerbrücke die Spree zu überqueren, um zum Ziel zu gelangen. Die für Touristen nicht zugängliche Brücke zwischen den beiden Bundestagsgebäuden bekam vom Berliner Volksmund den Spitznamen „Höhere Beamtenlaufbahn“.

Der jüngste Versuch der Klebe-Aktivisten, den Politikbetrieb zu stören, schlug übrigens fehl. Die Abgeordneten stiegen schon weit vor der Zufahrt zum UES aus den Autos und gingen das letzte Stück zu Fuß.