© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Viel Rauch, wenig Randale
Reportage: Bei den Fußballspielen der Marokkaner bleibt es hierzulande relativ ruhig / Insider machen sich dennoch Sorgen
Hinrich Rohbohm

Rauchschwaden aus Wasserpfeifen durchziehen die Luft. Etwa hundert Leute haben sich in der Shisha-Bar am Steintor, dem Rotlicht- und Szeneviertel in der Innenstadt von Hannover, eingefunden. Junge bärtige Männer, die selbst oder zumindest deren Vorfahren aus Nordafrika, etwa aus Marokko, stammen. Einige Türken, Kurden und Leute aus anderen Herkunftsländern des Nahen Ostens sind darunter, auch ein halbes Dutzend Frauen, teils mit, teils ohne Kopftuch. Und ein Reporter der JUNGEN FREIHEIT, an diesem Abend der einzige als Mitteleuropäer erkennbare Gast in dem Etablissement.

An den Wänden hängen Flachbildfernseher. Wie auch in der Shisha-Bar schräg gegenüber, in der jedoch gähnende Leere herrscht. „Das Spiel wird nur auf Magenta TV übertragen“, seufzt der Wirt dort. Wer habe das schon? Er verweist auf die Shisha-Bar auf der anderen Straßenseite. „Bestell einen schönen Gruß von mir“, sagt er. Man kennt sich auf der Party- und Discomeile, die immer wieder durch Drogenhandel und Messerstechereien in die Schlagzeilen gerät und aufgrund ihrer hohen Kriminalitätsrate als einer der gefährlichsten Plätze Deutschlands gilt.

Bestens bekannt sind dort zahlreiche Nordafrikaner auch der Polizei. Meistens junge Männer aus den Maghreb-Staaten, aus Marokko, Algerien oder Tunesien. Spätestens seit der Silvesternacht von Köln zum Jahreswechsel 2015/16 sind sie unter der – zunächst nur polizeiintern verwendeten – Bezeichnung „Nafris“ für „Nordafrikaner“ oder „nordafrikanischer Intensivtäter“ einer breiteren Öffentlichkeit zum Begriff geworden.

Es geht definitiv um mehr als ein Fußballspiel

Jetzt machen sie wieder Schlagzeilen. Die Nationalmannschaft von Marokko war während der Weltmeisterschaft in Katar sensationell ins Halbfinale eingezogen, schlug in der Gruppenphase Belgien überraschend mit 2:0, schaltete im Achtel- und Viertelfinale Spanien und Portugal aus. Das schöne Spiel der Marokkaner schlug jedoch in unschöne Szenen nach der Partie um. Nicht in den Stadien von Katar, sondern in den Großstädten Europas. Krawalle in Paris, Brüssel, Rotterdam. Es kam zu Attacken mit Feuerwerkskörpern auf Polizisten, Fahrzeuge brannten auf den Straßen. Auch in deutschen Städten war es vereinzelt zu Aufläufen mit Pyrotechnik gekommen, häufig trugen junge Männer statt marokkanischer Palästinenser-Flaggen mit sich.

Auch in die nun voll besetzte Shisha-Bar am Steintor kommen Männer mit Palästina-Fahnen. Manche tragen rot-weiße Araber-Tücher auf dem Kopf, sogenannte Kufiyas. Sie kommen mit Rucksäcken herein. Möglicherweise mit Feuerwerkskörpern darin? Die jungen, bärtigen Männer setzen sich an die hinteren Tische. An jedem Tisch steht eine Wasserpfeife mit einer kleinen Schüssel glühender Kohlewürfel daneben. Die wenigen Frauen nehmen vorn in der ersten Reihe platz. Die marokkanische Nationalhymne erklingt. Niemand erhebt sich. Nur die Frauen singen. Die bärtigen Männer in den hinteren Reihen haben ihre Augen geschlossen, die rechte Hand auf das Herz gelegt. Ihre Lippen bewegen sich nicht. Nur tiefe Brummtöne sind von ihnen zu vernehmen.

Die meisten aber schenken der Hymne kaum Beachtung, reden weiter mit ihren Sitznachbarn. Auch der Reporter wird weitestgehend ignoriert, manchmal mit einer Mischung aus abschätzigen und mißtrauischen Blicken bedacht. Bis ein etwas übergewichtiger bärtiger Marokkaner fragt: „Für wen bist du?“ Ein Dutzend interessierter Köpfe dreht sich plötzlich in Richtung des einzigen Blonden im Raum. „Äh … Marokko. Die spielen echt tollen Fußball bei dieser WM.“ Kopfnicken, freundliches Lächeln. Richtige Antwort. Das Eis ist gebrochen.

Dann die siebte Minute: Tor für Kroatien. Stille. Entsetzen. Einigen ist der Schlauch der Wasserpfeife aus dem Mund gefallen, während sie ungläubig auf den Bildschirm starren. Die Männer mit den Rucksäcken und den Palästina-Fahnen unterhalten sich dagegen weiter, als ob nichts geschehen wäre. Man scheint anderes im Sinn zu haben als Fußball.

Zwei Minuten später: der Ausgleichstreffer. Gekreisch bei den Frauen in der ersten Reihe. Schmerzverzerrte Schreie eines Mannes ein paar Reihen dahinter. Jemand hat vor Jubel und Aufregung eine der Schüsseln mit glühenden Shisha-Kohlen umgekippt, die dem Mann auf den Schoß gefallen sind. 

Zufriedene Gesichter ganz hinten bei den Bärtigen, die wie Nebelwerfer in einer Disco ihren Shisha-Rauch unentwegt in den Raum pusten. Andere dagegen hängen auf einmal eine Palästina-Fahne am Fenster auf. Die Frauen vorn stehen auf, jubeln. Einige von ihnen absolvieren spontan und zur Freude klatschend anfeuernder Männer unter orientalischer Musik eine Bauchtanz-Einlage auf. Jemand hat eine kleine Bongotrommel dabei, stimmt geräuschvoll in das rhythmische Klatschen ein. Allah- und Allahu-akbar-Rufe erklingen. Neben den marokkanischen holen nun immer mehr Gäste palästinensische, libanesische, kurdische und türkische Fahnen hervor, posieren mit ihnen demonstrativ vorn neben dem Bildschirm. Es geht hier definitiv um mehr als nur um ein Fußballspiel. Es geht um politische Zeichen und Symbole. Der Erfolg der marokkanischen Nationalmannschaft ist so ein Symbol. Für gemäßigte Marokkaner ist es ein sportlicher Sieg, ein Grund zur Freude. Für Fanatiker ist es dagegen mehr. Es ist ein Sieg der arabisch-islamischen Welt über den aus ihrer Sicht ungläubigen Westen.

Früher lockten Arbeitsplätze, heute Sozialleistungen

„Die Gefahr islamistischer Beeinflussung ist gerade für die jüngere Generation meiner Landsleute in Deutschland sehr groß“, sagt Aziz, ein marokkanischer Gastronom in Hamburg. Während sich die meisten in den vergangenen Jahrzehnten nach Europa ausgewanderten Marokkaner eher in Frankreich, Holland oder Belgien eine Existenz aufgebaut haben, ist ihre Zahl hierzulande zwar nicht so hoch, jedoch auch kontinuierlich gestiegen. Knapp 100.000 Marokkaner leben in Deutschland, weitere 100.000 haben einen marokkanischen Migrationshintergrund.

„Es sind aber andere Leute, die jetzt kommen. Wir kamen wegen der Aussicht auf Arbeit, haben in Deutschland Unternehmen gegründet, Arbeitsplätze geschaffen und Steuern gezahlt“, schildert der 64jährige seine Erfahrungen der jungen freiheit. Er selbst war Mitte der achtziger Jahre gekommen. „Damals ist das  ein anderes Deutschland gewesen.“ 

Die heutigen Einwanderer würden vor allem durch die hohen Sozialleistungen angelockt. „Mittlerweile gibt es in Deutschland eine gut ausgebaute Infrastruktur von Islamisten, die versuchen, junge Nordafrikaner für ihren religiösen Fanatismus zu gewinnen.“ Gerade Hamburg sei dafür ein „schändliches Beispiel“. In der Hansestadt waren es auch junge Marokkaner, die die Al-Quds-Moschee besuchten, jene Moschee, die nach dem 11. September 2001 als Treffpunkt der Attentäter bekannt wurde. Einer von ihnen war der Marokkaner Mounir al-Motassadeq, ein Komplize des ebenfalls aus Nordafrika stammenden und seinerzeit auch in Hamburg wohnhaften Hauptattentäters, Mohammed Atta. 

Die WM in Katar und der Erfolg der marokkanischen Nationalmannschaft diene Islamisten dabei als willkommener Anlaß, ihren Haß auf den Straßen Europas auszuleben. „Deutschland muß da unbedingt wachsam sein, wir merken, daß wir diese junge Generation von Nordafrikanern immer weniger erreichen können“, warnt Aziz.

Unterdessen ist in der Shisha-Bar am Steintor in Hannover Ernüchterung eingetreten. Kroatien hat das 2:1 erzielt. Dabei bleibt es bis zum Abpfiff. Der Raum ist inzwischen dermaßen stark in Shisha-Nebelwolken versunken, daß die Männer in den hinteren Reihen nur noch schemenhaft zu erkennen sind. Mit regungslosen Mienen ziehen sie weiter an ihren Wasserpfeifen, wirken dabei wie eine Art nordafrikanische Version sächsischer Räuchermännchen.

Krawalle und Pyro-Attacken nach dem Spiel bleiben diesmal aus, die Niederlage hält Übermut und Aggression in Grenzen. Die Polizei ist dennoch vor Ort. „Wir rechnen nicht mit Ausschreitungen“, sagt einer der Beamten. Jedenfalls nicht dieses Mal.