© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Die Sonne auf Erden
Durchbruch bei der Fusionsenergie: US-Forscher erreichen wichtigen Meilenstein / Es wird jedoch dauern, bis die Technologie marktreif ist
Marc Schmidt

Seit Milliarden Jahren versorgt die Sonne die Erde über eine Distanz von durchschnittlich 149,6 Millionen Kilometern mit Licht und Wärme. Sie tut dies durch wiederholte Fusionen von zwei Atomen Wasserstoff in drei Schritten zu verschiedenen Formen von Helium. Dabei wird Strahlung freigesetzt. Die Sonne hat bei diesem Prozeß im Kern den Druck von 200 Milliarden Atmosphären und eine Temperatur von 15 Millionen Grad Celsius. Pro Erdensekunde fusionieren etwa 600 Millionen Tonnen Wasserstoff zu 596 Millionen Tonnen Helium-4. Diesen Vorgang wollen Wissenschaftler weltweit nachahmen.

Umgangssprachlich formuliert, entsprechen die vier Millionen Tonnen fehlendes Gewicht pro Sekunde der durch die Fusion freigesetzten Energie. Wer hier an Albert Einsteins legendäre Gleichung zwischen Energie und Masse E = mc² denkt, liegt richtig. Das unglaubliche Potential dieser Technik zeigt die Tatsache, daß ein einziges Gramm eines Fusionsgemisches aus den Wasserstoffisotopen Deuterium und Tritium den gleichen thermischen Brennwert zur Energieerzeugung ergibt wie elf Tonnen Kohle. Und am 5. Dezember wollen US-Amerikaner einer Miniatursonne auf der Erde ein ganzes Stück näher gekommen sein.

Wendelstein 7-X in Greifswald: der weltweit größte Stellarator

Seit dem Verständnis der Funktionsweise der Sonne träumen Wissenschaftler, Politik, Wirtschaft und Militär von irdischen Nachbauten. Tatsächlich basieren Kernkraftwerke, Atomwaffen und Wasserstoffbomben unter anderem auf Erkenntnissen über Kernfusionen. Seit den 1950 Jahren sind deren Grundlagen verstanden. Forschern am Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) gelang es erstmals beim eigentlichen Fusionsprozeß mehr Energie zu gewinnen, als mit einem Laser hineingeschossen wurde. Trotzdem stecken die Versuche zur friedlichen, strahlungs- und emissionsfreien sowie unbegrenzten Energieversorgung technisch noch in den Kinderschuhen.

Denn jeder Nachbau einer Sonnenfusion muß die beiden dort herrschenden Rahmenbedingungen bezüglich Temperatur und Druck lösen. Eine Herstellung und räumliche Begrenzung des umgerechnet mehr als 28fachen der Gravitationskraft auf der Erde scheidet aus physikalischen Gründen aus. Wenn es nicht der Druck ist, der die Protonen und Neutronen der Isotope zur Fusion vereinigt, dann bleibt nur die Hitze, um den fehlenden Druck auszugleichen. Um das Isotopengemisch in den notwendigen Plasma-Zustand zu bringen, sind dauerhaft Temperaturen von unvorstellbaren 150 Millionen Grad und mehr erforderlich. Keine irdische stoffliche Verbindung hält dem ansatzweise stand, weshalb die Plasmamasse, die im Kern positiv durch Protonen aufgeladen ist, in allen bisher erdachten Anlagen durch Magnetfelder kontrolliert und in Position gehalten wird.

Drei Systeme konkurrieren um den Einsatz: Der Name des bekanntesten und am weitesten entwickelten Systems Tokamak basiert auf dem russischen Akronym, das übersetzt etwa „Toroidale Kammer mit Magnetspulen“ bedeutet. Der Tokamak-Ansatz wurde in den 50er Jahren erstmals unter der Führung des späteren Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow entwickelt. Zentral dabei ist die Anordnung der Magnetfelder, die in Ringen durch Spulen verlaufen, welche optisch einem großen Buchstaben „D“ entsprechen. Die Aufheizung auf die Zieltemperatur von 150 Millionen Grad Celsius erfolgt bei der Durchleitung von Strom durch die Teilchenmenge im Vakuum des Behälters.

Hierbei sorgt der elektrische Widerstand wie in den Wolframfäden alter Glühlampen für Wärme. Insgesamt arbeitet eine Tokamak-Konstruktion pulsierend. Sobald die äußere Energiezufuhr unterbrochen wird oder das zu fusionierende Isotopenmaterial aufgebraucht ist, erlischt das Plasma.  Die Fusionsreaktion endet. Dieser Effekt bietet einen großen Sicherheitsvorteil gegenüber Kernkraftwerken. Doch es bedeutet zugleich regelmäßige Unterbrechungen der Stromproduktion, je nach Größe der Anlage.

In der alternativen Stellarator-Bauweise werden bereits die Spulen in sich verdreht angeordnet, vergleichbar einem Möbiusband. Entsprechend wird hier auf die Durchleitung von Strom zur Verstärkung der magnetischen Kräfte und zur Aufheizung verzichtet. Diese Bauweise ist wegen der Möglichkeit zur kontinuierlichen Nachfüllung des Fusionsgemischs dauerbetriebsfähig. Aber auch noch einmal deutlich anspruchsvoller. Entwicklungen wie unter anderem des Wendelsteins 7-X in Greifswald sind weniger weit fortgeschritten. 

Der dortige weltweit größte Stellarator soll durch den Verzicht auf die jeweils starken Anfangsimpulse zu Reaktionsbeginn in der Energiebilanz dem Tokamak überlegen sein – so er denn eines Tages läuft. Aktuell geriet er dagegen in die Schlagzeilen, weil die Forscher eine Stromknappheit fürchten. Mit den Netzbetreibern sei vereinbart worden, im Fall von Versorgungsengpässen Arbeits- und Experimentierzeiten so zu verlegen, daß sie in verbrauchsärmere Tageszeiten fallen. Noch verbrauchen die riesigen Magneten an der Ostseeküste etwa soviel wie 6.000 deutsche Haushalte.

Das Prinzip des neuen Rekordreaktors in den USA basiert dagegen nicht auf magnetgeleiteteter Fusion. Baulich unterscheidet sich diese Anlage vor allem durch den Verzicht auf komplexe Ring­anordnungen zur Stabilisierung des Plasmaflusses. Die Magnetfelder, die auch hier zur Fixierung eingesetzt werden, sollen eine Bewegung verhindern.

 Der US-Forschungsdurchbruch bei der Trägheitsfusion erfolgte nach dem gleichzeitigen Beschuß der zu fusionierenden Isotope in ihrem Behälter mit 192 Laserkanonen. Diese Technik stammt aus der Waffenforschung. Die Laser selbst aus dem „Star Wars“-Rüstungsprogramm unter US-Präsident Ronald Reagan in den 80er Jahren. Im Ergebnis gelang es, die Isotope bereits bei über 100 Millionen Grad zur Fusion zu bewegen und bei der Milliardstel einer Sekunde dauernden Zündung erstmals mehr Energie zu erzeugen, als hineingesteckt wurde. Bemerkenswerterweise erzielten die Forscher am LLNL jetzt einen Energieüberschuß von 20 Prozent, insgesamt bei einer Freisetzung von 3,15 Megajoule. Allerdings: Der Energieüberschuß bezog sich dabei nur auf das Verhältnis zur eingesetzten Menge für die Laser, nicht jedoch auf die gesamte Anlage, die dabei etwa 300 Megajoule verbrauchte. Gleichwohl bleibt die erste positive Energiebilanz ein Meilenstein in der Kernfusionsforschung.

Allerdings können sowohl der Tokamak als auch das US-Trägheitsfusionssystem einen zentralen Nachteil nicht überwinden. Sie sind – im Volksmund gesprochen – Wasserkocher. Wie auch bei der derzeit in Frankreich im Bau befindlichen internationalen Forschungsanlage ITER wird der erhoffte Energieüberschuß in Wärme dargestellt. Diese müßte, wie bei allen gegenwärtigen Reaktortypen mit einem hohen Effizienzverlust zu Dampf für eine Turbine gewandelt werden. Lediglich ein Stellarator wäre aufgrund seiner Bauweise in der Lage, direkt Strom zu produzieren und einzuspeisen.

In Frankreich schreitet der Bau des ITER-Projekts zügig voran, der Versuchsreaktor soll bis 2030 einsatzbereit sein. Bemerkenswert ist die fortgesetzte, reibungslose Zusammenarbeit mit Rußland. Moskaus Forscher sind nach wie vor führend beim Tokamak, und der Kreml hat zuletzt im November über den Seeweg eine gigantische Magnetspule nach Frankreich geliefert.

192 Laserkanonen erzeugen 20 Prozent Überschußenergie

Große Konkurrenz wächst derweil in China. In deren größter Tokamak-Testanlage im zentralchinesischen Hefei verbessern Wissenschaftler seit Jahren ihre eigenen Rekorde bezüglich des dauerhaften Erhalts des Plasmas. Die aktuelle Bestleistung: 70 Millionen Grad, welche 17,5 Minuten gehalten worden sind. Auch mit 160 Millionen Grad liegt der Temperaturrekord in China, die allerding nur 20 Sekunden stabil blieben. Ein Zwischenziel der Chinesen lautet 100 Millionen Grad über eine Woche lang halten zu können. Zum Vergleich: ITER soll ab der Einsatzbereitschaft 2030 15minütige Pulse liefern, bevor es neu gestartet werden muß. China ist jetzt schon weiter. Entsprechend planen Wissenschaftler im Reich der Mitte erste kommerzielle Nutzungen in Form von Hybryd-Reaktoren bereits in sechs Jahren. Der Bau des Reaktors, in dem sowohl Kernfusion als auch Kernspaltung ablaufen sollen, ist bereits ab 2025 beachsichtigt. 

Die ehrgeizigen Pläne sehen vor, einen starken Energieüberschuß aus einer Tokamak-Technik zu nutzen, um eine deutlich effizientere Verwendung von Uran in einem die Fusionsanlage umgebenden Kernkraftwerk zu ermöglichen. So müßte das Kernkraftwerk keine hohen Startleistungen mehr verbrauchen, und der hohe Eigenverbrauch würde gesenkt. Der kommerzielle Einsatz dieser Technologie im Jahr 2035 würde dann zeitlich zusammenfallen mit dem Wunschdatum der Grünen zur Abschaltung der letzten Kohlekraftwerke Deutschlands.