© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Grüße aus … Graz
Anheimelnde Stimmung
Paul Leonhard

Melodien klingen aus dem jahrhundertealten Rauchhaus. Weihnachtslieder, etwas schräg gesungen, aber unverkennbar. Neugierig öffne ich die Tür zur Stube. Es knarrt erbärmlich. Alle schauen sich nach mir um, aber sie lächeln. Eine junge Frau deutet auf den freien Platz neben ihr, drückt mir ein geöffnetes Liederbuch in die Hand. Und schon bin ich Teil einer Gruppe, die in der Adventszeit textsicher Lieder singt, von denen ich im besten Fall die erste Strophe und den Refrain kenne. Klaus Seelos kennt das, und es ist einer der Gründe, warum er an den Adventswochenenden und auch an anderen zu Liederabenden in das ehemalige „Siedlhansengütl“ einlädt.

Ich befinde mich im Enzenbachgraben, einem kleinen Seitental der Mur, zehn Kilometer nordwestlich von Graz, wo die Wege kurz sind. Es ist nur ein Sprung von Kärnten in die Steiermark. Und vom Berg grüßt die Alm. Willkommen im Österreichischen Freiluftmuseum Stübing.

Ich bin angekommen, singe mit, bis die Zeile „Es wird scho glei dumpa“ an mein Ohr dringt.

Hierher haben eifrige Heimatschützer all die einst für die ländlichen Regionen typischen Gebäude umgesetzt: Höfe, Getreidespeicher, Mühlen. Und sie bemühen sich, daß auch das mit diesen verbundene Brauchtum und die handwerkliche Tradition nicht verlorengehen. Deswegen wird an den Wochenenden geschmiedet, geklöppelt, geschnitzt, Zinn gegossen, Nahrhaftes nach alten Rezepten gekocht, werden Körbe geflochten und Volkslieder gesungen. „Wer dem Volke sein Lied wiedergibt – das entschwindende –, der gibt ihm seine eigene Seele zurück“, zitiert Museumsmitarbeiter Seelos, der den Liederabend leitet, Peter Rosegger.

In der guten alten Zeit, die gar nicht so gut, sondern von harter Arbeit und mitunter bitterer Armut geprägt war, in der die Landbevölkerung nur zwei Jahreszeiten kannte: das Auswärts und das Einwärts,war die Stube der einzige warme Raum im Haus und der Ort, wo die Familie gewohnt, gelebt, gekocht, geschlafen hat: „Hier sind sie zur Welt gekommen und gestorben – ein ganzer Lebenszyklus und immer begleitet von alten Geschichten und Liedern als Ausdruck von Lebensfreude und auch von Trauer.“ Die Kinder hätten von klein auf mit jeder Textzeile etwas aufgenommen.

Die Stimmung in dem Raum mit der niedrigen Decke ist anheimelnd. In einer Ecke glimmt ein Feuer. Ich bin angekommen, singe mit, bis die Zeile „Es wird scho glei dumpa“ an mein Ohr dringt. Ich merke auf. Tatsächlich, längst wirft die Nachmittagssonne keine gebündelten Strahlen mehr durch die beiden kleinen Fenster. Es ist höchste Zeit, schnell zum Auto zurückzulaufen. Wie lange die zwei Stunden Entschleunigung wohl anhalten? Auf der Weiterfahrt singe ich Weihnachtslieder, bei einigen jetzt sogar die zweite und dritte Strophe.