© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Geschichte ist Romantik
Besuch bei Graf Nikolai Tolstoi: Die spannende Familiengeschichte eines unbotmäßigen Historikers
Annalisa Oehler

Selten bin ich im Spätherbst mit Sonnenschein und Temperaturen von 18 Grad in London begrüßt worden. Meine Reise sollte allerdings nicht am Flughafen Heathrow enden, sondern ich mache mich von dort aus mit dem Auto auf den Weg in die Grafschaft Oxford, in ein kleines malerisches Dorf unweit der berühmten Universitätsstadt. Hier bin ich mit Graf Nikolai Tolstoi verabredet. Der Graf hat mich eingeladen, einige Tage mit ihm und seiner Familie zu verbringen. 

Der Anlaß unseres Treffens ist, uns über sein neustes Buch „Stalin’s Vengeance“ (Stalins Rache) auszutauschen. In diesem arbeitet Tolstoi „die endgültige Wahrheit über die erzwungene Rückkehr der Kosaken nach dem Zweiten Weltkrieg“ auf. Ich hatte bereits Anfang des Jahres von der Veröffentlichung erfahren, insbesondere weil die Verbreitung in Großbritannien unterdrückt wird und das Buch daher in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurde. 

Nach knapp zwei Stunden Fahrt erreiche ich das einladende Anwesen der Tolstois, wo der Graf mit seiner Frau Georgina lebt. Typisch englisch – mit hölzernem Tor, einer Kiesauffahrt und einem Vorplatz liegt das Haus aus dem frühen 17. Jahrhundert umrahmt von alten Bäumen, gepflegten Blumenbeeten und weiten Wiesen in einer ruhigen Sackgasse.

„Mein Urgroßvater war der Kammerherr von Zar Nikolaus II.“  

Graf Tolstoi ist Historiker und Chef des russischen Adelshauses Tolstoi. Leo Tolstoi, der berühmte Autor von „Krieg und Frieden“, war ein entfernter Vorfahre, aus einer anderen Linie der Familie. Der 87jährige begrüßt mich herzlich und bittet mich am späten Nachmittag auf eine Tasse Tee in die gemütliche Landhausküche, die von einem großen AGA-Herd (Wärmespeicherofen und Kochherd) gewärmt wird. Tolstoi ist zwar ein russischer Graf, aber seine Art und Manieren sind die eines englischen Gentlemans. 

Trotz seines Alters ist er noch immer aktiv und schreibt täglich in seiner Bibliothek, die sich in einem eigenen Gebäude auf dem Grundstück befindet. Er berichtet mir, daß er erst vor wenigen Wochen ein Buch über König Artus fertiggestellt hat. Die Kelten, aber auch die Mythologie Britanniens haben es ihm seit seinem Studium am Trinity College in Dublin angetan. 

Stolz zeigt er mir am nächsten Morgen sein Reich. Er selbst weiß nicht genau, wie viele Bücher er besitzt. „Zehntausend sind es bestimmt“, antwortet er auf meine Frage nach der Anzahl. Einige der Bücher, darunter Erstausgaben von Jane Austen und Charles Dickens, erbte er von seinem Stiefvater, dem bekannten englischen Autor Patrick O’Brian, dessen Werk „Master and Commander“ mit Russell Crowe vim Jahr 2003 verfilmt wurde. 

Bereits als Schüler wußte er, daß er sein Leben der Geschichte widmen wollte. „Für mich hat Geschichte eine Art von Romantik an sich. Ich meine das nicht auf eine alberne Art und Weise, aber wenn ich hier in meiner Bibliothek zwischen meinen Büchern sitze, habe ich das Gefühl, daß ich in jede beliebige Zeit eintauchen kann.“ Seiner Meinung nach waren die Menschen in seiner Jugend viel freier, besonders in bezug auf Meinungsvielfalt und das Erkunden dieser. 

„Das ist es, was mich an der ‘Woke’-Generation erschreckt, die nur eine Meinung haben will und Angst davor hat, daß diese in Frage gestellt wird.“ Er erinnert sich an seine Schulzeit am Wellington College, in der die Lehrer zwar streng, aber für Meinungsfreiheit offen waren. „In meinem Fall waren einige Dinge, die ich glaubte, nicht so ganz richtig, also nutzte ich die umfangreiche Bibliothek in der Schule und begann meine eigene Forschung. Dort habe ich gelernt, die Quellen genau zu lesen und nicht nur einem Buch zu vertrauen, sondern auch ein zweites zu lesen und die andere Seite zu erfahren. Das ist etwas, was heute an englischen Universitäten und Schulen nicht mehr möglich ist – jedenfalls zunehmend nicht mehr“, erklärt er. Er nennt es ein Privileg, daß er als Historiker immer unabhängig war und sich nie nach Vorgaben einer Institution hat richten müssen. „Ich habe mit dem Gedanken gespielt, wie es gewesen wäre, wenn ich einen Lehrstuhl innegehabt hätte. Aber heute bin ich froh, daß es dazu nie gekommen ist.“ 

Obwohl das Ziel meines Besuches ist, mehr über sein aktuelles Buch zu erfahren, führt uns das Gespräch immer wieder zu der spannenden Historie seiner Familie. Bereits beim Abendessen am Tag zuvor erzählte er mir, wie es dazu kam, daß er als Engländer geboren wurde. Seines Erachtens spielt die Geschichte seiner Vorfahren eine große Rolle, wieso er sich ebenfalls mit der Rußlands intensiv auseinandergesetzt hat.

„Mein Urgroßvater war Kammerherr des Zaren Nikolaus II. und freundschaftlich mit ihm verbunden. Daher hatte unsere Familie auch ein Haus auf der Krim, in der Nähe von Jalta, um im Sommer in der Nähe der Zarenfamilie zu sein.“ Über das Leben der Familie in Rußland und auch vom kaiserlichen Hof berichteten ihm seine Großtanten väterlicherseits immer wieder während seiner Kindheit. „Meine Familie hatte ein großes Anwesen außerhalb von Kasan, einer Stadt an der Wolga, südöstlich von Moskau.“ Tolstoi erzählt, daß die Russische Revolution in den ersten zwei Jahren keine Auswirkungen auf die Familie hatte. 1918 eroberten die Bolschewiken unter der Führung von Leo Trotzki Kasan und sein Großvater, der eine Warnung von den zaristischen Weißen erhalten hatte, floh in den Süden des Landes, um sich der Weißen Armee anzuschließen. Er wäre sonst auf der Stelle erschossen worden.

„Mein Vater Dmitri, der damals sechs Jahre alt war, konnte nicht transportiert werden, da er an Scharlach erkrankt war. Meine englische Großmutter war bereits verstorben und mein Vater blieb in der Obhut eines englischen Dienstmädchens, das meine Großmutter bei ihrer Heirat nach Rußland mitgebracht hatte“, erzählt der Graf. 

Das Dienstmädchen hieß Lucy Stark und sollte der Grund sein, wieso sein Vater überlebte und schließlich nach England kam. „Lucy war eine tapfere Frau. Sie und mein Vater versteckten sich fast zwei Jahre lang in Kasan. Es war schrecklich, denn die Bolschewiken suchten überall nach Weißen, vorwiegend nach Adligen, und erschossen sie auf der Stelle“, berichtet er weiter. Die Chance auf Sicherheit bot sich dann 1920, als die Briten mit den Bolschewiken Frieden schlossen und ein Abkommen in Kopenhagen unterzeichneten. Laut dieses Abkommens konnten Engländer in bolschewistischer Hand nun nach England zurückgeschickt werden. „Lucy war Engländerin und nahm meinen Vater mit. Sie fuhren mit dem Zug nach Moskau, und dort trafen sie sich mit dem britischen Botschaftskaplan, der aus dem Gefängnis entlassen worden war. Er war mit der Aufgabe betraut, alle britischen Staatsbürger zu registrieren. Lucy beharrte darauf, meinen Vater mitzunehmen und ging sogar so weit, ihn als ihren unehelichen Sohn auszugeben. Der Kaplan wußte, daß dies eine Lüge war, da er auf der Hochzeit meiner Großeltern war, aber schlußendlich stellte er ihm Papiere auf den Namen Dmitri Stark aus.“ 

Die Ausreise soll schwierig und mit vielen Hindernissen gewesen sein. Letztlich erreichten die beiden England. Dmitri galt fortan als Flüchtling, aber er hatte den Rückhalt seiner wohlhabenden Familie mütterlicherseits, und er wuchs mit anderen russischen Kindern im Schloß des Marineadmirals Sir Douglas Nicholson in Cornwall auf. 15 Jahre später wird Nikolai geboren. 

„Obwohl ich in England geboren bin und englisches Blut habe, fühle ich mich bis heute sehr russisch. Ich bin in einer kleinen russischen Welt groß geworden, habe Russisch gesprochen, bin im orthodoxen Glauben erzogen worden“, stellt er klar. 

„Unsere Familie ist heute in viele Länder verstreut. Wir treffen uns aber alle regelmäßig auf Leo Tolstois früherem Landgut Jasnaja Poljana.“ Die Wurzeln seiner Familie will er nicht vergessen. Deshalb hat er sich schon in jungen Jahren mit dem Schicksal der russischen Emigranten beschäftigt. „Es war mir wichtig, mit dem Buch ‘Stalins Rache’, mit neuen Erkenntnissen zum dritten Mal über das Schicksal der Kosaken zu schreiben.“

Bereits 1977 hatte er die „Verratenen von Jalta. Englands Schuld vor der Geschichte“ veröffentlicht, gefolgt von „Der Minister und die Massaker“ 1986. In seinen Büchern geht es um die Auslieferung von circa 2,25 Millionen Menschen russischen Ursprungs, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den westlichen Alliierten an die Sowjetunion ausgeliefert wurden, was für die meisten den sicheren Tod bedeutete. Insbesondere beschäftigt ihn die Lienzer Kosakentragödie, die sich im Frühling 1945 in Österreich ereignete. Die Kosaken hatten sich der Wehrmacht angeschlossen, da ein Großteil von ihnen bereits während der Russischen Revolution auf der Seite der zaristischen Weißen gegen die roten Bolschewiken gekämpft hatten und seither von der sowjetischen Spitze verfolgt wurden. Obwohl die Briten zugesagt hatten, eine Zwangsrepatriierung nicht zu gestatten, wurden Soldaten und Zivilisten zugleich, um die 40.000 Menschen, auf Lkws und Eisenbahnwaggons verladen und an das sowjetische Kommando übergeben. Wer sich nicht vorher das Leben nahm, starb später in den Gulags. Für Tolstoi ist das Verhalten des britischen Militärs ein Kriegsverbrechen.

Die Tragödie der Kosaken liegt ihm sehr am Herzen

Tolstoi hatte das erste Mal von dem Schicksal der Kosaken erfahren, als er in den 1950er Jahren verhaftet worden war. Er hatte gegen einen Besuch von Nikita Chruschtschow und Nikolai Bulganin, der damaligen Führungsspitze der Sowjetunion, in England protestiert. Auf seinem Schild hieß es „Haltet die roten Biester fern“. „Der nette Polizeibeamte brachte mir Eier und Speck in meine Zelle und fragte mich, wieso ich so wütend auf die Sowjets war.“ Tolstoi erklärte ihm, daß er aus einer russischen Familie stammte und einiges bereits über die Übergabe von Tausenden Menschen an die Sowjets gehört hatte, die dann von Stalin ermordet oder versklavt wurden. „Er erzählte mir dann, daß er vor zehn Jahren mit der Armee in Österreich stationiert war und sie diese Russen zurücksenden mußten.“ Die britischen Soldaten konnten damals nicht begreifen, wieso sich so viele aus den Zügen stürzten und sich absichtlich das Genick brachen. Bevor er weitererzählt, weist er mich darauf hin, daß unser Gespräch laut englischem Recht illegal ist. „Ich könnte auf der Stelle verhaftet und ohne Anhörung für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt werden.“


In Teil 2 lesen Sie: Wieso darf Nikolai Tolstoi über die Kosaken-Geschichte nicht sprechen? Seine enge Verbindung zu Alexander Solschenizyn und was laut seinen Recherchen damals wirklich passiert ist und wer die tatsächlichen Übeltäter waren.