© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Wir müssen Geduld haben
Seelenführer: Der volkstümliche Fürstbischof und Kirchenlehrer Franz von Sales predigte Anleitungen zu einem frommen Leben
Eberhard Straub

Der große Historiker und Kirchenvater Augustinus mahnte in der Welt tätige Christen, in diesem Reich voller Täuschungen nicht zu verzagen: „Laßt uns gut leben, dann sind auch die Zeiten gut. Wir sind die Zeiten. So wie wir sind, so sind auch die Zeiten“.

Der Heilige Franz von Sales, vor vierhundert Jahren am 28. Dezember 1622 in Annecy, seinem Exil als Fürstbischof des indessen calvinistischen Genf, gestorben, veröffentlichte in diesem Sinne 1609 „Philothea oder Anleitung zum frommen Leben“, ein Buch, das in viele Sprachen übersetzt, dazu verhelfen will, Weltklugheit und Frömmigkeit miteinander im Gleichgewicht zu halten. Alle Übertreibungen schaden, auch in der Frömmigkeit, denn sie führen zur Unordnung, die das immer schwierige Zusammenleben verwirrt. Es gibt nicht einen und für alle gleich gültigen Weg, sich in der stets veränderlichen Welt zurechtzufinden. Ein Edelmann hat andere Verpflichtungen als ein Handwerker, eine Witwe wiederum andere als ein Bauer, ein Bischof kann sich nicht wie ein Mönch verhalten, kurzum alle Übungen der Tugend und der Frömmigkeit müssen den Kräften und den Aufgaben jedes Einzelnen an dem Ort entsprechen, auf den er gestellt ist, um zur allgemeinen Ordnung das Seine beizutragen.

Franz von Sales, 1567 geboren, sollte sich seinem Stande gemäß zum Juristen ausbilden, um sich alle möglichen Laufbahnen zu eröffnen im Rechtswesen, in der Verwaltung oder Diplomatie. Er hatte in Paris und Padua studiert und schloß sein Studium 1591 mit der Promotion ab. Während dieser Jahre machte er sich aber auch vertraut mit den vornehmen Lebensformen, deren Zweck es ist, Würde mit Anmut zu vereinen. Seine gefällige Lebensart bewahrte ihn davor, die Wissenschaften zu überschätzen und ein gelehrter Pedant zu werden.

Zum adligen Auftreten gehörte es mittlerweile, sich auch in der jeweiligen Volkssprache gewandt ausdrücken zu können. Der spätere Heilige Franz von Sales schrieb und sprach in der Umgangssprache der großen Welt. Er ist einer der klassischen Schriftsteller Frankreichs geworden. Alles Klassische ist einfach und deshalb besonders schwierig, weil nichts mehr an die unvermeidlichen Mühen und den raffinierten Kunstverstand erinnern durfte. Deshalb konnte Philothea auch von all denen mit Gewinn gelesen werden, die nicht in Salons verkehrten. Sie empfingen geistlichen Rat und schulten zugleich ihren Geschmack. 

Als sich Franz von Sales nach der Promotion dazu entschloß, Priester zu werden, versagte er sich nicht der Welt. Auch als geistlicher Herr blieb er ein großer Herr und bezauberte mit seiner Liebenswürdigkeit die schlichten Gläubigen wie die theologisch und literarisch kenntnisreichen Damen und Kavaliere in ihren feinsinnigen Kreisen. Gute Manieren hielt er für die Voraussetzung einer aufrichtigen Frömmigkeit. Gott durfte bei aller Liebe zu jedem einzelnen erwarten, daß jeder, der sich ihm zuwandte, nicht den Respekt vor seiner Majestät verletzte. Formlosigkeit bringt die wünschenswerte Ordnung durcheinander und verhindert den Aufstieg aus den Unzulänglichkeiten des allzu Menschlichen und Irdischen zur Freiheit in Gott. Das äußere Tun soll aus dem inneren Leben hervorgehen, und das innere Leben durch das äußere Tun genährt und gefördert werden. Es geht um den ganzen Menschen, der von Gott gerufen wird und der sich zu ihm auf den Weg machen soll. Jeder, der von seinem Herrscher an den Hof bestellt wird, muß bestimmte Zeremonien und Ehrbezeugungen einhalten, und sich damit des Rufes als würdig erweisen, der an ihn erging. Er wird dabei jede Arroganz und Künstelei vermeiden, sondern sich aus Klugheit in Zurückhaltung üben unter der Führung durch Ehrbarkeit und Anstand, die aufgrund der göttlichen Liebe unsere Unvollkommenheiten mildern. 

Wie wir auf die göttliche Geduld hoffen dürfen, so müssen wir auch mit uns Geduld haben. Wir sollen nicht unsere Seele zergliedern und uns darüber im Labyrinth des eigenen Ich verirren. Gott wird niemals jene verlassen, die ihn nicht verlassen wollen. Mit dieser Gewißheit im Herzen kann jeder umsichtig und lebensklug, also ohne Angst, allem begegnen, was auf ihn zukommt. Er braucht sich nicht um das Morgen zu sorgen, sondern muß sich im Hier und Heute bewähren, stets bedenkend, daß jedes Morgen ein Heute wird mit seinen Forderungen. Das immer bewegliche Leben ist die Zeit, in der Gott gesucht wird. Der Tod ist das Ziel und der Zeitpunkt, Gott zu finden. „Die Zeit, ihn zu besitzen, ist die Ewigkeit“. Gott ist ein Gott der Freude, und deswegen sollen wir mehr auf die Liebe zum Guten vertrauen, statt uns vor dem Bösen zu ängstigen. Seine Majestät, wie Franz von Sales Gott nennt, achtet nicht so sehr darauf, was geschieht, sondern wie es geschieht. Der innere Wille und die ihm gemäße Form bedingen einander. Die vom Glauben, der Liebe und der Hoffnung bewirkten Tugenden verleihen die Kraft, sich selbst zu überwinden und „richtig“ mitten in der Welt zu leben, ohne sich von ihr täuschen zu lassen. 

Die wahre Frömmigkeit ermöglicht einen sittlichen und schönen Anstand: Maß zu halten, die passenden Worte bei jeder Gelegenheit zu finden, ganz einfach auf andere einzugehen, sie zu ehren und damit sein Ansehen zu erhalten, ohne das der anderen zu mindern. Lob, ehrenvolle Anerkennung und ein ausgezeichneter Ruf, ja Ruhm dürfen gar nicht als weltliche Äußerlichkeiten geringgeschätzt werden. Der Ruhm hängt mit dem Ruhm Gottes, der gloria Dei zusammen, in ihm äußert sich etwas von seiner Herrlichkeit, die er mit seinen Ebenbildern auf Erden großherzig zu teilen vermag.

Ruhm wird allerdings nur dem zuteil, der dem Ruhm Gottes dient, indem er seine Pflichten erfüllt und den liebeerfüllten Geboten Gottes genügt. Darüber nähert er sich der Freiheit und der Vollkommenheit. Ihn werden die verworrenen Umtriebe vieler und die Niedertracht der Nächsten nicht um seine Seelenruhe und schöne Gelassenheit bringen. Denn Gott und das Schöne sind ein und das Gleiche, weil die geistige Vollkommenheit sich nur in vollkommener Schönheit zu erkennen gibt. Deswegen braucht keiner mutlos zu werden. Er soll nicht mit seiner Unvollkommenheit hadern, sondern im Blick auf die göttliche Vollkommenheit, unverdrossen daran arbeiten, besser und schöner zu werden. 

Inneres Gebet, Meditation, der Umgang mit ehrbaren Freunden und Nachbarn, ein lebenskluger Beichtvater, begeisternde Prediger, die aus der Trägheit herausreißen, dieser schrecklichen Verfehlung der menschlichen Bestimmung, und zur Tat und zum Handeln anspornen, helfen dabei, sein Dasein nicht zu verfehlen und zur Freiheit zu gelangen, die sich aus der Paradoxie ergibt, sich einer höchsten Kraft zu ergeben: Dein Wille geschehe, nicht meiner. Auf dieser Freiheit durch Gehorsam beruht die weltlich-öffentliche Ordnung.

Mit höfischen Wendungen kann der Seelenführer Franz von Sales solche beruhigen, die eine seelische Trockenheit in sich verspüren und gar nicht fähig sind zum inneren Gebet und zur geistigen Anschauung des wahren Guten und Schönen. Jeder ist in dieser Welt auf seine Art ein Hoflieferant Gottes, je nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Kein Mensch ist wie Gott, also ein uomo universale. Jeder muß sich beschränken. Wer seinem Beruf gerecht wird, seiner weltlichen Bestimmung, in aller Ruhe und gewissenhaft seine Arbeit ausführt, ist vor Gott all denen überlegen, die vielerlei tun, gar nicht zur Besinnung kommen und mit ihrer Vielgeschäftigkeit gar nichts zustande bringen. „Nicht an der Menge unserer Arbeit hat Gott Freude, sondern an der Liebe, mir der wir arbeiten.“ Des Lebens Ziel ist Handeln. So sehr der Heilige als Mystiker auf dem Wege zu seiner persönlichen Vollkommenheit voranschritt, riet er dennoch den auf die Welt und die Zeit angewiesenen Weltleuten, nicht seinem Beispiel zu folgen. Gott zeigt sich bei vielen Gelegenheiten mitten im Alltag, man muß ihn nicht auf subtilen Pfaden suchen, die nur für den darauf vorbereiteten Christen geeignet sind. 

„Die echte Frömmigkeit schadet keinem Beruf und keiner Arbeit; im Gegenteil, sie gibt ihm Glanz und Schönheit. Jeder Mensch wird anziehender, wenn er seine weltlichen Tätigkeiten mit der Frömmigkeit verbindet. „Die Sorge für die Familie wird friedlicher, die Liebe zum Gatten echter, der Dienst am Vaterland treuer und jede Arbeit angenehmer und liebenswerter“. Er tadelte die Christen, die danach strebten, vollkommen wie ein Engel zu werden, und es versäumten, ein guter Mensch zu werden. Jeder sollte vielmehr ein geistlicher Kämpfer werden und an seinem Platz für das Rechte und Gute sorgen. Das alte Ritterideal des durch die ständig geübten Tugenden edel und schön gewordenen Menschen, wird mit der besonderen Würdigung der Arbeit auf jeden übertragen. Mit „arebeit“ oder „trabajos“ verbanden Deutsche oder Spanier den unermüdlichen Einsatz des christlichen Ritters, die Welt und den in der Zeit verhafteten Einzelnen aus Verstrickungen zu lösen, die ihn davon abhalten, zur Freude und Schönheit zu gelangen. Große spanische Mystiker, auf die sich zuweilen Franz von Sales beruft, Teresa von Avila oder Ignatius von Loyala, hatten in ihrer Jugend Ritterromane verschlungen und sich zum Ziel gesetzt, alles Mittelmäßige hinter sich im wesenlosen Scheine zu lassen und als ein Soldat seiner göttlichen Majestät oder als diskrete, besonnene Dame über alles Gemeine zu triumphieren. Ihr gutes Beispiel vermochte mehr als ausgeklügelte Soziallehre oder Glaubenssoziologie, auf deren Wirksamkeit heute gerne vertraut wird. Franz von Sales, immerhin ein Wissenschaftler, fürchtete, daß die Wissenschaften viele, die ihnen gar nicht gewachsen sind, nur aufblähe und sie unerträglich eitel mache. Es ist der Glaube, der tätige Glaube, der vor dem Ungeist weltfremder Systemschmiede bewahrt.






Dr. phil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor, war Feuilletonredakteur der FAZ und Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin.