© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Gezielte Angriffe
Rußlands Kriegsführung bedroht das kulturelle Erbe und das historische Gedächtnis der Ukraine
Oliver Busch

Auch für die deutsche Osteuropawissenschaft ist am 24. Februar 2022 eine Zeitenwende angebrochen. Ihr publizistisches Flaggschiff, die seit 1953 erscheinende Zeitschrift Osteuropa, hat ihr Herz für die Ukraine entdeckt. Das geschah nicht abrupt. Denn schon nach der russischen Annexion der Krim (2014) erfuhr das zweitgrößte europäische Land in den Osteuropa-Heften sukzessive mehr Aufmerksamkeit. Aber schwerlich ist zu bestreiten, daß sich ihre Inhalte zuvor streng am Kurs bundesdeutscher Außenpolitik und deren Maxime „Rußland zuerst“ ausgerichtet hatten. Dem geringen Gewicht, das seit der Implosion des Ostblocks alle Berliner Regierungen – Kohl, Schröder, Merkel, Scholz – postsowjetischen Staaten wie der Ukraine zubilligten, entsprach daher aufs beste deren relativ bescheidene Berücksichtigung in Osteuropa. 

Um so überraschender für viele Leser dürfte nun die facettenreiche Präsentation der lange im deutschen wie im westeuropäischen Medienkosmos nahezu ignorierten Ukraine als Kulturnation kommen (Heft 6–9/2022). Unter säuberlicher Ausklammerung der Fragen nach den Ursachen des russisch-ukrainischen Krieges versuchen deutsche wie ukrainische Historiker und Slawisten die zentrale russische Rechtfertigung für den militärischen Einfall ins Nachbarland zu entkräften, wonach die Ukraine als ein von Lenin geschaffenes Kunstgebilde ohne eigene Geschichte und Kultur kein Gran Existenzberechtigung habe.

Die Zerstörungen treffen das ukrainische Nationalbewußtsein

Nur eine solche imperialistische Auffassung macht für den Berliner Historiker und Journalisten Bert Hoppe den archaisch anmutenden russischen Vernichtungswillen verständlich, der sich in den letzten Monaten an ukrainischen Kultureinrichtungen, Archiven, Bibliotheken und Baudenkmälern austobte. Dabei handele es sich nicht etwa um „Kollateralschäden“, zufällig entstanden während der Kampfhandlungen, sondern um gezielte Zerstörungen, die die „Säulen des ukrainischen Nationalbewußtseins“ zum Einsturz bringen sollen. So sei das im Charkiwer Gebiet gelegene, in einem Gutshaus untergebrachte Literaturmuseum für Hryhorij Skoworoda, einen der wichtigsten ukrainischen Philosophen und Dichter des 18. Jahrhunderts, von russischer Artillerie Anfang Mai unter Feuer genommen worden. Das Gebäude brannte nieder, aber die Exponate waren zuvor evakuiert worden.

Weniger glimpflich ging es in einem Dorf bei Buča ab, wo nach russischem Beschuß das Archiv der Čornovol-Stiftung ein Raub der Flammen wurde, das wichtige Dokumente der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung aus der späten Sowjetära bewahrte. Der weitaus schmerzlichste Schlag traf das historische Gedächtnis jedoch gleich zwei Tage nach Kriegsbeginn. Im beschossenen Gebäude der Gebietsverwaltung des ukrainischen Geheimdienstes SBU in Černihiv verbrannten 13.000 Akten des sowjetischen Geheimdienstes NKWD/KGB. Darunter sowohl Akten über Opfer des stalinistischen Terrors samt der Verhörprotokolle und persönlicher Unterlagen der Verfolgten als auch Personalakten der „Täter“. 

Dieser Fall zeige: „Rußlands Angriffskrieg gefährdet somit nicht allein das historische Gedächtnis und das nationale Gedenken der Ukraine, sondern auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte.“ Und zwar just in dem Moment, wo die Ukraine ihre Archive in einem Ausmaß der Forschung öffnete, wie das für Rußland längst unvorstellbar geworden sei. Insbesondere deutsche Historiker könnten von dieser liberalen Archivpolitik nach Kriegsende profitieren, da im Zentralen Staatsarchiv in Kiew umfangreiche Aktenbestände aus der Provenienz des Reichskommissariats Ukraine lagern, aus denen sich weitere Aufschlüsse über die völkermörderische Praxis deutscher Besatzungsherrschaft zwischen 1941 und 1944 gewinnen ließen.

In Kiew geben zahlreiche Akten zudem Auskunft über jene „dunklen“ Kapitel ukrainischer Geschichte, die von russischer wie deutscher Seite oft propagandistisch gegen eine Ukraine ins Spiel gebracht würden, die ihre Vergangenheit noch nicht „vorbildlich aufgearbeitet“ habe. Vor allem nicht die Kollaboration ukrainischer Nationalisten mit der Wehrmacht einerseits, die zuletzt Thema „empörend“ verharmlosender Äußerungen des langjährigen Kiewer Botschafters Andrij Melnyk über deren Führungsfigur Stepan Bandera gewesen war, sowie andererseits die Beteiligung ukrainischer „Hilfswilliger“ am Holocaust. Die (noch) unversehrten Akten versprächen dazu weitere Aufklärung, obwohl die ukrainische Erinnerungs- und Geschichtspolitik hier schon Fortschritte erzielt habe, die allerdings von der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden seien.

Für Bert Hoppe sind Attacken auf die Archivlandschaft diesseits des Dnjepr lediglich ein Vorspiel des russischen „Angriffs auf das historische Erbe“ der ukrainischen Kulturnation. Was man den um Unterfütterung seiner Landnahme bemühten Verlautbarungen Wladimir Putins kurz nach Kriegsbeginn genauso entnehmen konnte wie dem noch enthemmter Klartext sprechenden Essay des Kreml-Politologen Timofej Sergejzew, dessen maximalistische Agenda „Was Rußland mit der Ukraine tun sollte“ seit Monaten auf deutsch zugänglich ist (Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2022). 

Schlüsselbegriff dieses Textes ist die mit Putins schwammigem Kriegsziel „Entnazifierung der Ukraine“ nicht nur korrespondierende, sondern sie radikalisierende Formel „Entukrainisierung“. Das bedeute die vollständige Verätzung jeglichen Nationalbewußtseins auf dem Territorium „Kleinrußlands“, wie das Synonym für die Ukraine im russischen Jargon vor 1917 stets lautete. Da das „Ukrainertum“ nach Putins und Sergejzews Deutung eine „künstlich antirussische Konstruktion ohne eigenen zivilisatorischen Inhalt“ ist, galt es, diese Vorstellung durch Angriffe auf die ukrainische Kultur in Wirklichkeit zu verwandeln. Die im September 2022 von der Unesco erstellte Liste verifizierter kriegsbedingter Beschädigungen oder vollständiger Zerstörungen von Baudenkmälern, Museen, Archiven und Bibliotheken umfaßt 189 Objekte, dazu kommen 24 getroffene Bildungsinstitutionen. Auf einer Webseite des ukrainischen Kultusministeriums sind 479 Objekte aufgelistet, von Sakralbauten bis zu Theatern. Nicht vergessen dürfe man, wie Bert Hoppe mahnt, Ehrenmäler für die ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkrieges. 

Was an Hoppes Hymnus auf die Ukrainer, die er als ethnisch-kulturell homogenes Volk im heroischen Abwehrkampf gegen einen übermächtigen russischen Aggressor inszeniert, seltsam anmutet, ist die extreme kognitive Dissonanz, die solche prototypische Begeisterung von konstitutionell „Anti-Deutschen“ für fremde Vaterländer erzeugt. Anders als in der Ukraine, deren westliche Sympathisanten sie nicht genug preisen können für ihre nationale Standfestigkeit, die der „Entukrainisierung“ trotze, wird in der deutschen Regenbogenrepublik der durch Masseneinwanderung in die Sozialsysteme forcierte Prozeß der „Entdeutschung“ jauchzend begrüßt und ist politisch höchst erwünscht. Darum mutiert zum Verfassungsfeind, wer am emphatischen Verständnis von Volk und Nation festhält (Martin Wagener, „Kulturkampf um das Volk“, 2021). Folglich ist der großflächig gegen Weltkriegsdenkmäler wütende „antifaschistische“ Vandalismus offiziell so toleriert wie die den Taliban abgeschaute Bilderstürmerei, die sich gegen unliebsame Straßennamen, christliche Kreuze oder auch mal gegen ein Porträt Bismarcks im Auswärtigen Amt richtet. Unter der Hegemonie der rot-grünen Barbaren braucht es keine russische Artillerie, um das kulturelle Erbe auszulöschen. 

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