© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Traditionen im Bild festhalten
Ausstellung: Fotografien des Spaniers José Ortiz Echagües
Claus-M. Wolfschlag

In eine ferne, märchenhaft wirkende Welt entführt eine Fotoausstellung in den Opelvillen Rüsselsheim. Es ist eine Welt, die vor gerade einmal hundert Jahren eingefangen wurde und doch unserem modernen Alltag teils so fern erscheint wie die orientalischen Romanfiguren Karl Mays. 

Der Künstler war ein Tausendsassa. José Ortiz Echagüe wurde 1886 als Sohn eines Militäringenieurs nahe Madrid geboren. Der Vater wurde versetzt, und Echagüe wuchs in der Region La Rioja auf. Die Söhne der Militärfamilie entwickelten ein großes künstlerisches Talent. Der ältere Bruder Antonio ging erst nach Paris, dann nach Argentinien, und wurde ein bekannter Maler. José hätte es ihm gerne nachgemacht, doch die finanzielle Situation des Vaters ließ kein weiteres Auslandsstudium zu. So gelangte er über einen Umweg zur Kunst.

Seine Bild-Kompositionen gleichen denen von Gemälden

Der Onkel, ein Militärattaché, schenkte ihm einen Fotoapparat, und der 12jährige José begann, damit durch die Landschaft zu streifen. Sehr bald fand er ein begeistertes Publikum. Für sein 1903 geschossenes Bild der Predigt in einer Dorfkirche erhielt der 17jährige bald darauf den ersten Preis in einer Ausstellung. Bereits 1904 berichtete eine Fotozeitschrift aus Madrid ausführlich über seine Arbeit. Als Ortiz Echagüe 1911 eine Ballonfahrerlizenz und die bis dahin dritte spanische Pilotenlizenz erwarb, wurde es ihm möglich, als einer der Fotopioniere Luftaufnahmen herzustellen. Als erster sollte er die Straße von Gibraltar überfliegen. Auch unternehmerisch war Ortiz Echagüe umtriebig, gründete er doch 1923 die Flugzeugfabrik C.A.S.A., die heute in der Airbus-Group aufgegangen ist, und 1950 den Automobilkonzern Seat. Trotz dieser vielfältigen Aktivitäten lag Echagües Augenmerk stets auf der Fotokunst. 

In den 1920er und 1930er Jahren galt Ortiz Echagüe als einer der besten Fotografen weltweit. Bekannt wurde er auch in Deutschland durch seine 1929 in Berlin gezeigte Ausstellung „Spanische Köpfe“. Von diesem Ruhm kann man sich in der Rüsselsheimer Schau überzeugen. Dabei stand er in einem inneren Spannungsfeld. Einerseits vertrat Ortiz Echagüe schon als Unternehmensgründer die Modernisierung Spaniens, damit das Land international bestehen konnte. Andererseits war ihm wohl mit Wehmut bewußt, daß der Preis dafür das Sterben des alten Lebens bedeuten dürfte. Traditionelle Trachten würden verschwinden, die Landschaft würde tiefgreifenden Umformungen unterzogen. Diese innere Spannung versuchte Ortiz Echagüe durch sein fotografisches Schaffen zu lösen, mit dem er zumindest das kulturelle Erbe Spaniens bildlich sicherte, bevor es verschwand.

Dabei gleichen Ortiz Echagües Bild-Kompositionen denen von Gemälden. Der malerische Eindruck wurde durch eine besondere Technik verstärkt. Mittels eines speziellen Papiers, auf dem sich eine feine Gelatineschicht befand, war es ihm möglich, sehr deutliche Hell-Dunkel-Effekte zu erzeugen. Kontaktabzüge wurden mit Sägemehl, Wasser, Pinseln und Schabeisen bearbeitet. Der Dokumentarist der vom Verschwinden bedrohten archaischen spanischen Traditionen wurde so zum Künstler, der vielfach mit kreativen Effekten spielte.

Es entstanden märchenhafte und wie Malerei wirkende Szenen aus dem einstigen Spanien und Marokko, das Ortiz Echagüe mehrfach bereiste. Trotz der Schwarz-Weiß-Technik berauscht der bunte Reigen an traditionellen Kleidungsstücken, unverbauten Dörfen und Landschaften, aus denen die Siedlungen direkt entwachsen erscheinen. Dem Betrachter eröffnet sich ein mitreißender Blick in das traditionelle Landleben und dessen Durchdringung mit tiefer katholischer Religiosität. Mit 110 Vintage-Abzügen wird den Besuchern der Rüsselsheimer Schau ein umfassender Einblick in Ortiz Echagües Schaffen geboten. In einem in der Ausstellung laufenden Film erläutert der Künstler zudem selbst eindrucksvoll seine Motive und Techniken.


Die Ausstellung „Fotografien der Vergangenheit. José Ortiz Echagüe (Spanien 1886–1980)“ ist bis zum22. Januar 2023 in den Opelvillen Rüsselsheim, Ludwig-Dörfler-Allee 9, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, samstags ab 14 Uhr, zu sehen.

 www.opelvillen.de/de/