© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Klassenscham im Hunsrück
Belletristik: Der autofiktionale Roman „Lügen über meine Mutter“ handelt von fehlendem Selbstwertgefühl und Identitätssuche
Regina Bärthel

Kaum etwas ist so langweilig wie die westdeutsche Mittelklassenrealität“, schrieb Daniela Dröscher vor wenigen Jahren. Langeweile jedoch entsteht zumeist dort, wo Phantasie fehlt – und an ihr mangelt es Dröscher ganz sicher nicht. Nicht zu Unrecht schaffte sie es daher mit ihrem aktuellen Roman auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022: „Lügen über meine Mutter“ reiht sich ein in die seit längerem beliebte Form der Autofiktion, mehrschichtige literarische Gewebe aus erinnerter Erfahrung und poetologischer Anreicherung. Es handelt sich hierbei um die „Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten“ (Serge Doubrovsky), deren Vater Marcel Proust gewesen sein und die mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2022 an Annie Ernaux ihren einstweiligen Höhepunkt erfahren haben dürfte.

Daniela Dröschers Autofiktion „Lügen über meine Mutter“ erzählt von eben jener westdeutschen Mittelklasserealität in der rheinland-pfälzischen Provinz. Man schreibt die Jahre 1983 bis 1986, Helmut Kohl ist Bundeskanzler, es beginnt eine Zeit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsolidierung. Die Bundesrepublik befindet sich auf dem Weg in ein neues Normal. Es ist dieses Normal, dem das Kind sowie die Autorin nachspüren: Vordergründiges Hauptthema ist das – nach Ansicht des Vaters – nicht normale Körpergewicht der Mutter, doch haben nahezu alle Figuren des Romans ihre einstmals angestammte Lebensposition verlassen und suchen nun nach neuen Orientierungspunkten. Auf dem Weg dorthin allerdings verheddern sie sich in etwas völlig anderes: Es ist die Scham, inklusive fehlendem Selbstwertgefühl sowie Angst vor potentieller Demütigung und Versagen, die ihre Fallstricke ausbreitet.

Konfliktpotential aus Mißgunst und Überheblichkeit

Die sechsjährige Ela lebt mit ihren Eltern und Großeltern auf dem ehemaligen Bauernhof der väterlichen Familie im Hunsrück. Nur wenige Kilometer entfernt bewohnen die Eltern der Mutter ein ansehnliches Haus; die aus Schlesien Geflüchteten haben es zu Wohlstand gebracht. Schon hier liegt ein erkleckliches Konfliktpotential aus Mißgunst und Überheblichkeit, das sich auch auf die Beziehung zwischen Elas Eltern niederschlägt: Der Vater, vom Bauernsohn zum Angestellten avanciert, versucht durch zahlreiche materielle Aufwertungen – mein Rotwein, mein Cabrio, mein neues Haus – die klebrige Scholle abzuschütteln. Das gelingt ihm nur unzureichend, zu tief ist er im Dorf, im Dialekt, im alten Normal verwurzelt. Und auch mit der Karriere will es nicht so recht klappen – doch Schuld daran trägt seiner Ansicht nach allein der voluminöse Körper seiner Frau. Daher zwingt er sie nicht nur immer wieder zum Abnehmen, sondern sucht ihr Gewicht mittels Körperwaage und Notizheft mathematisch genau zu überwachen. Die Mutter allerdings stützt sich dabei listig auf einen Besenstiel, um die korrekte Messung auszutricksen. Ein groteskes, ja slapstickartiges Bild, das das komplexe Themengeflecht des Romans um Scham und Selbstverantwortung, Anpassung und deren Verweigerung schalkhaft verdeutlicht – und zugleich ein Beweis für Dröschers immer wieder aufblitzenden Humor und ihren Sinn für Situationskomik ist. 

Zugleich ist die Mutter ein Fremdkörper im Dorf, von allen wohl gelitten, doch aufgrund ihrer Distanziertheit ohne soziale Kontakte. Zum Unmut ihres Mannes arbeitet sie als Fremdsprachenkorrespondentin und bildet sich weiter, denn auch sie will etwas aus sich machen. Ihre Zielstrebigkeit wird jedoch zunächst durch eine ungewollte Schwangerschaft und später durch ihre soziale Ader – möglicherweise schon ein Helfersyndrom – zerstört: Zu guter Letzt versorgt sie ihre beiden Töchter, das Pflegekind Jessy sowie ihre an Alzheimer erkrankte Mutter. Auch den Bau des neuen Hauses, hochfliegender Traum ihres Mannes, überwacht sie nicht nur, sondern zahlt ihn auch von ihrem Erbe, von dem nach der Tschernobyl-Katastrophe auch ein erklecklicher Teil an den Kampf gegen die Atomkraft fließt. Diese Frau ist schlicht zu groß für einen eng gesteckten Rahmen – auch im physischen Sinn. Die ersten Sätze des Buches lauten: „Meine Mutter paßt in keinen Sarg. Sie ist zu dick, sagt sie.“

Glücklicherweise bedient sich der Roman keines eindeutigen Täter-Opfer-Schemas; zur verkorksten Familienkonstellation tragen alle Beteiligten bei. Allerdings wirkt die Handlungsweise des Vaters aggressiver und vor allem normierter, während die Mutter immer häufiger im verborgenen agiert und sich in Formen der Autoaggression (darunter heimliche Freßgelage) flüchtet. Das Kind Ela gerät dabei immer mehr zwischen die Fronten; ihre ersten Schritte in eine größere soziale Gemeinschaft, vulgo Grundschule, eröffnet auch in ihr die Frage nach dem, was wohl normal sein könnte. Sukzessive übernimmt sie die Scham des Vaters bezüglich der dicken, die Norm sprengenden Mutter. 

Und hier liegt wohl die Initialzündung des Romans „Lügen über meine Mutter“: „Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere“, konstatiert Nobelpreisträgerin Annie Ernaux in ihrem Roman „Erinnerung eines Mädchens“. Auch bei Dröscher wird die Scham zum Motor einer konstruktiven Erinnerungsarbeit, die sich in der Autofiktion literarisch manifestiert. Eine frühere Lebensrealität mit ihren spezifischen Werten, Glaubenssätzen und Hoffnungen wird sozusagen reanimiert; dabei hilft die Rückbesinnung auf Situationen und Gegenstände (man denke an Prousts Madeleine-Gebäck), insbesondere aber auf Sprachmuster, die diese Lebenswelt anschaulich machen. Hierauf bezieht sich Dröscher, wenn sie sprachliche Redewendungen wie „schlank und rank“, „sich lieb Kind machen“ oder „zu Tode schuften“ innerhalb des Textes kursiv setzt. Sie markieren nicht nur eine familiäre sprachliche Tradition, sondern durchaus die eines Milieus – beziehungsweise einer gesellschaftlichen Klasse.

Die Sicht des Kindes wird in einen größeren Zusammenhang überführt

Klasse? Ebensowenig wie kommunistisches oder sozialistisches Gedankengut ist auch der Begriff der Klasse nicht auf der historischen Abraumhalde gelandet, sondern feiert seit einiger Zeit seine Wiederkehr. Gleichermaßen für die Soziologie wie Literatur steht hierfür der aus der französischen Arbeiterschaft stammende Didier Eribon: Die Klassenzugehörigkeit, also das soziale Herkunftsmilieu, bestimme den Rahmen sowie die Möglichkeiten der individuellen Entwicklung. „Von Geburt an tragen wir die Geschichte unserer Familie und unseres Milieus in uns, sind festgelegt durch den Platz, den sie uns zuweisen,“ schreibt er in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“. Begriffe wie Chancengleichheit und Individualismus verbannt er in die Welt der Mythen, denn durch den Milieuwechsel entstehe stets das „Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören“. 

Ernaux wie Eribon haben Daniela Dröscher nach eigener Aussage stark beeindruckt: 1977 geboren, wuchs sie als Kind einer Aufsteigerfamilie im Hunsrück auf. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, ist promovierte Medienwissenschaftlerin, erwarb ein Diplom in „Szenischem Schreiben“ an der Universität Graz und lebt heute in Berlin. In ihrem vor vier Jahren erschienenen Buch „Zeige deine Klasse“, in der sie ihre soziale Herkunft reflektiert, bezeichnet Dröscher den Aufstieg durch Bildung als größten Mythos unserer Zeit: Die „Liebe von Eltern zu ihren Kindern ist deshalb einer der größten Faktoren in der kapitalistischen (Selbst-)Ausbeutung der Mittelklassen“. Ist dies Jammern auf hohem Niveau oder eher der Versuch, in einer von Opferhierarchien geprägten Welt darauf zu verweisen, daß jeder sein Päckchen zu tragen hat?

Vor allem ist es ein – möglicherweise auch selbsttherapeutischer – Versuch, sich seiner eigenen Identität bewußt zu werden. Daher wird die kindliche Erzählperspektive in „Lügen über meine Mutter“ immer wieder von Einschüben unterbrochen, in denen die Autorin, zumindest aber eine erfahrenere Stimme, die Ereignisse analysiert, sie aus der unzuverlässigen Sicht des Kindes in einen größeren Zusammenhang überführt. Und hier gibt es interessante Dinge zu beobachten: Obgleich man viele der beschriebenen Familienkonflikte gut durch die psychologischen Untersuchungen über die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen einordnen und erklären könnte (hervorragend zusammengefaßt in Raymond Ungers Buch „Die Wiedergutmacher“), wird hier über „Väterherrschaft“, die durch Friedrich Engels konstatierte „Haussklaverei der Frau innerhalb der Kleinfamilie“ oder ein durch den Nationalsozialismus geprägtes Körperbild des Vaters sinniert. Ein Interpretationsrahmen, der nur selten aufgebrochen wird. Das überrascht insofern, als Dröscher sich – siehe die Hervorhebung prägender Redewendungen – selbstredend des Einflusses der Sprache auf das Denken und Empfinden bewußt ist. Ihre Sprach- und Interpretationsmuster nutzt sie jedoch eher unreflektiert. Was zeigt: Man ist wohl immer Kind des eigenen, wenn auch neu erarbeiteten Milieus. 

Es stellt sich die Frage: Meint das Lügen in „Lügen über meine Mutter“ ein Nomen oder ein Verb, will das Buch Lügen aufklären oder sie – im Sinne einer konstruktiven, fiktionalisierenden Erinnerung – erzählen? Welche Alternative wäre nutzbringender für diese Autofiktion, in deren Mittelpunkt eher die Suche nach der Identität der Autorin steht? Es ist jedoch nicht falsch, seine persönlichen Grundlagen zu untersuchen, und auch der Leser – zumal der westdeutsch sozialisierte – kann daraus Nutzen ziehen: Daniela Dröscher ist eine gute Erzählerin mit Sinn für banale und witzige Details. In ihrem Buch stellt sie hierdurch eine große Nähe zum Leser her und lockt bei diesem eigene Erinnerungs-partikel und Momente der Selbsterkenntnis hervor – wenn auch bisweilen durch eine komplementäre Positionierung.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, gebunden, 448 Seiten, 24 Euro