© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Die fabelhafte Welt der Luise
Kino II: Die Romanverfilmung „Was man von hier aus sehen kann“ porträtiert eine exzentrische Dorfgemeinschaft
Dietmar Mehrens

Ich kenn’ hier niemanden, der nichts versteckt.“ Mit diesen wenig schmeichelhaften Worten charakterisiert Luise (Luna Wedler) die Einwohner ihres kleinen Heimatdorfs, an dem die Renovierungslust, die sonst für deutsche Kleinbürger in rustikalen Regionen wie dem Westerwald so typisch ist, spurlos vorübergegangen zu sein scheint. 

Neben der angesagten deutschen Nachwuchsdarstellerin Luna Wedler, die gerade auch als Fee im neuen „Räuber Hotzenplotz“-Film (JF 50/22) zu sehen ist, spielt in dem Film „Was man von hier aus sehen kann“ von Aron Lehmann (auch Drehbuch) Corinna Harfouch eine weitere Hauptrolle. Die Vorzeigemimin aus Sachsen schlüpfte in die Rolle von Luises liebenswerter, wenn auch ein wenig verschrobener Oma Selma. Außerdem lernt der Zuschauer den Dorf-Optiker (Karl Markovics) kennen, der Selmas verschämter Dauerverehrer ist, Luises Mutter Astrid, die zumeist durch Abwesenheit glänzt, die dauerdepressive Marlies, die in einem schäbigen Selbstmörderhaus wohnt, und den Landwirt Palm, der nach einem Schicksalsschlag vom Hinterwäldler zum gläubigen Christen geworden ist und gut lesbar ein Schild mit dem bekannten Jesus-Ausspruch „Ich bin das Licht der Welt“ (Johannes 8,12) an seiner Tür angebracht hat. Eine zweite Zeitebene schildert Luises Kindheitsabenteuer an der Seite ihres besten Freundes Martin, Palms Sohn.

Das zentrale Motiv der knallbunten Geschichte ist Selmas unwillkommene Sonderbegabung, Besuche von Gevatter Tod zu antizipieren: Immer wenn sie nachts von einem Okapi (extrem seltenes Urwaldzebra) träumt, ist das die Vorankündigung eines Todesfalls. Etwa desjenigen, der wie in der stilprägenden Tragikomödie „Grüne Tomaten“ (1991) infolge eines furchtbaren Zugunglücks ausgerechnet die sympathischste Figur des Films vorzeitig aus dem Leben reißt. Aber nicht nur Selma, auch ihre Enkelin verfügt über eine entbehrliche Sonderbegabung: Sie entfesselt kinetische Energien, wenn das, was sie sagt, und das, was sie empfindet, nicht kongruent sind. Da kann dann schon mal eine Laterne vom Pfahl stürzen.

Mit „Was man von hier aus sehen kann“ gelang Mariana Leky ein gewaltiger Bucherfolg: Der Roman erschien 2017 bei Dumont und wurde seither mehr als 700.000mal verkauft und in 22 Sprachen übersetzt. Ähnlich wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (2001), der französische Filmklassiker, dem Aron Lehmanns Tragikomödie in Stil und Ton gleicht, scheint sich der fantasievolle Film, so sieht es jedenfalls lange Zeit aus, bei der detailverliebten Zeichnung seiner vielen skurrilen Figuren zu verzetteln. Aber dann taucht, gerade noch rechtzeitig, Frederik auf, ein hessischer Buddhist mit einer ans Sündhafte grenzenden Vorliebe für Schokoriegel. Und so rückt eine Liebe unter schwierigen Vorzeichen ins Zentrum des Geschehens: Luise verguckt sich in den stattlichen jungen Mann mit der Mönchskutte. Wird er aber für sie seinem Ruf an ein japanisches Kloster die Gefolgschaft aufkündigen? In der Liebe folgen die Dinge jedenfalls nicht mit so bedingungsloser Konsequenz aufeinander wie der Tod auf einen Okapi-Traum.