© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

„Notwendig, daß viel Blut fließt“
Zwei Bücher über tschechische Nachkriegsverbrechen 1945 berücksichtigen auch neuere Aufarbeitungen in Tschechien
Gernot Facius

Abseits vom medialen Hauptstrom sprießt heute eine Literatur, die sich jahrelang vernachlässigter politisch-historischer Themen annimmt. Die Greuel bei der Entrechtung und schließlich Vertreibung von Deutschen aus ihrer Heimat waren tabuisiert, über sie wurde meist nur in Vertriebenenblättern geschrieben. Nachkriegsverbrechen groß zu dokumentieren und darüber zu reden, das galt als politisch inopportun. Erst die militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan und Putins Ukrainekrieg bewirkten einen allmählichen Wandel. 

Nun rücken auch Tragödien wie die in Aussig an der Elbe vor fast 78 Jahren in den Fokus. Es sind martialische Sätze im Memorandum „Unser Kampf“ von Oberstleutnant Kala, seinerzeit tschechoslowakischer Militär-Attaché in London, die einen Hinweis geben auf das, was sich nach Kriegsende tatsächlich abspielen sollte: „Es ist notwendig, daß im Sudetengebiet viel Blut fließt (…)Der Schrecken muß derartige Ausmaße annehmen, daß er die Sudetendeutschen noch Jahrzehnte später in Angst versetzt.“ Das Memorandum datiert vom Januar 1940. Widerlegt sind damit die angeblichen „spontanen Reaktionen“, mit denen noch heute in der Tschechischen Republik die Vorgänge kleingeredet werden. In ihrem nach 17 Jahren wiederaufgelegten Buch „Was geschah in Aussig am 31. Juli 1945?“ treten die Autoren Jan Havel, Vladimir Kaiser und Otfrid Pustejovsky der Desinformation entgegen: „Auch wenn die Gewalttaten an der deutschen Zivilbevölkerung schon relativ bekannt sind, ist die Teilnahme der Angehörigen der „Svoboda-Armee“ an dem Aussiger Massaker für einen tschechischen Leser keine angenehme Feststellung schon deshalb, weil die Soldaten der sogenannten Ost-Armee vom Großteil der tschechischen Gesellschaft als Helden rezipiert werden, die an der Befreiung der Tschechoslowakei vom Hitlerfaschismus beteiligt waren.“ 

Der Historiker Petr Koura spricht von einem „ungeheuer aktuellen Thema“, er wirft einen Blick auf die Vorgänge in der Ukraine: „Wir sind Zeugen dessen, wie Menschen nur wegen ihrer ethnischen Abstammung getötet werden, wie sich erneut Gewalt rechtfertigende Desinformationen verbreiten.“ Das alles finde sich schon in der Geschichte der Aussiger Geschehnisse. Und gerade deshalb sei es lohnend, sich damit zu beschäftigen, was damals in der Stadt an der Elbe geschah, auch wenn es scheinen könnte, daß es sich um eine schon sehr ferne Vergangenheit handele. Das Buch versammelt apokalyptische Bilder und Berichte von der Explosion des Munitionslagers in Aussig-Schönpriesen (26 Tote, 50 Schwer- und 300 Leichtverletzte). Die Vorgänge werden im tschechischen und deutschen Gedächtnis unterschiedlich wahrgenommen. In das vor allem sudetendeutsche Gedächtnis gingen sie als eines der grauenvollsten Massaker des „blutigen Sommer“ 1945 an der deutschen Zivilbevölkerung ein, auf tschechischer Seite sind sie ein Beispiel der angeblichen Sabotagetätigkeit der deutschen Organisation „Werwolf“, die als Beweis für das „unmögliche Zusammenleben“ von Tschechen und Deutschen im böhmischen Raum herangezogen wurde. 

Forschungsergebnisse und geheime tschechische Unterlagen lieferten ein anderes Bild: Es handelte sich um eine gezielte Aktion der Abteilung Z des Prager Innenministeriums. Mit ihr sollte ein für das Ausland erkennbaren Grund geschaffen werden, die deutsche Bevölkerung zu vertreiben. Unmittelbar nach der Explosion wurden deutsche Zivilisten von tschechischen Revolutionsgarden ohne nähere Untersuchung als Schuldige ausgemacht. Menschen wurden erschlagen, mit Bajonetten erstochen, in einem Löschwasserspeicher ertränkt oder von der Elbebrücke gestoßen und im Fluß beschossen. Leichen trieben bis ins benachbarte Sachsen. 

Größte „ethnische Säuberung“ 

in Europa bis Srebrenica 1993

Aussig ist kein Einzelfall. Geheimgehaltene Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllten schier Unfaßbares aus Saaz und Postelberg von Anfang Juni 1945. Die Zahl der ermordeten Deutschen wird in dem von Andreas Kalckhoff herausgegebenen Buch „Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945?“ mit etwa 800 angegeben. Die Mörder selbst gaben bei einer Untersuchung im Jahr 1947 an, daß die Zahl der Opfer „etwa tausend“ betrug. Abgesehen von einer Exhumierung kurz nach Kriegsende, die von einer Kommission des Parlaments angeordnet worden war, gab es keine umfassenden Untersuchungen. Mit Sicherheit, so die Meinung von Experten, handele es sich um die größte „ethnische Säuberung“ an einem Ort in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Massaker im bosnischen Srebrenica Mitte der 1990er Jahre. Das Kalckhoff-Buch beschränkt sich auf wenige Tage. Männer, Frauen und Kinder mußten Folter, Vergewaltigungen, Schläge und Erniedrigungen über sich ergehen lassen, zusammengepfercht bei Wasser und Brot. In den ersten Nächten wurden jeweils an die 250 Männer erschossen. Insgesamt wurden 763 Opfer registriert, doch die tatsächlichen Zahlen dürften das Dreifache übersteigen. Nirgendwo in Böhmen und Mähren lagen die Zahlen an einem Ort höher, schreibt das Landesecho, Zeitung der deutschen Minderheit in Tschechien. Von einer „Orgie der Gewalt“ spricht der Prager Autor und Verleger Jiri Padevet. Und er rückt eines zurecht: „Die Morde in Postelberg werden oft als spontane Aktion dargestellt, als eine Art Volksgerechtigkeit. Dem ist jedoch nicht so: Alle Morde wurden von Befehlshabern der Armeeeinheiten und des Militärischen Abwehrdienstes (OBZ) organisiert.“ Noch deutlicher: Es ging weder um den Ausbruch des Volkszorns noch um Hinrichtungen, die ein Gericht angeordnet hatte, sondern um Morde, ausgeführt von Armeeangehörigen. Um Morde, zu denen Offiziere Befehle erteilen mußten. Heute, so Padevet, würde man die Untaten „unzweifelhaft“ der Kategorie Völkermord zuordnen. „Immerhin wurden die verscharrten Leichen exhumiert und bestattet“, kommentierte das Landesecho. Aber noch 1997 ließ die Staatsanwaltschaft wissen, sie könne einen möglichen Straftatbestand nicht ermitteln. 

Herausgeber Kalckhoff (Jahrgang 1944), Historiker und Publizist, möchte, daß das Buch mit dem Anklageritual ein Ende macht und plädiert unter dem Wahlspruch „Versöhnung durch Wahrheit“ für eine gemeinsame Vergangenheitsbewältigung. Für den Historiker, schreibt Kalckhoff, der die in dem Buch versammelten Texte und Dokumente in oft verstreuten Publikationen gefunden hat, sei der Zeitgeist auch immer ein Mittel der Erklärung. Den Betroffenen helfe das alles gar nichts. „Es helfen ihnen aber auch keine Rechtsstandpunkte. Geschichte ist nicht mehr zu ändern. Es mag dem Seelenfrieden der Betroffenen und Nachkommen dienen, Recht zu bekommen, aber die Geschichte spricht selten recht. Also muß man sich an das halten, was mit dem guten Willen aller Beteiligten zu bekommen ist: die Wahrheit.“ Eine reife Gesellschaft, gibt sich Kalckhoff überzeugt, sei in der Lage, bittere Wahrheiten zu ertragen. 

Jan Havel, Vladimír Kaiser, Otfrid Pustejovsky: Was geschah in Aussig am 31. Juli 1945? Dokumentation eines Nachkriegsverbrechens. Verlag Tschirner & Kosova, Leipzig 2022, gebunden, 248 Seiten, Abbildungen, 39,80 Euro

Andreas Kalckhoff: Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfaßbare. Verlag Tschirner & Kosova, Leipzig 2022, gebunden, 532 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro