© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Alle Überzeugungen können immer nur Hypothese sein
Der Neurowissenschaftler Philipp Sterzer über das menschliche Phänomen, Sinn auch jenseits der objektiven Faktenlage zu suchen
Michael Dienstbier

Die Neigung, seinem Gegner Unvernunft, Irrationalität oder gar Wahnsinn zu unterstellen, ist so alt wie die Menschheit. Damit einher ging immer auch die Überzeugung, man selbst habe unter Berücksichtigung der objektiven Faktenlage einen bestimmten Sachverhalt komplett durchdrungen und sei dergestalt zu einer vernunftbasierten Positionsbestimmung gelangt. In der Form nichts weiter als ein liebgewonnener Mythos, so das klare Urteil Philipp Sterzers. Der Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften, zwischen 2011 und 2022 an der Berliner Charité forschend und lehrend und seit diesem Jahr an der Universität Basel tätig, erklärt in seiner neuen Darstellung „Die Illusion der Vernunft“, wie menschliche Überzeugungen entstehen. An den neurowissenschaftlichen Laien gerichtet, liefert das Buch verständlich erläutert faszinierende Einsichten zur Funktionsweise unseres Gehirns als „Vorhersagemaschine“ und Realitätsproduzenten. In seinen Exkursen in tagesaktuelle Gefilde jedoch offenbart Sterzer genau die „wahnhaften“ Tendenzen, deren Ursprünge er vorher so klug seziert hat.

Alle Überzeugungen, egal „wie ‘normal’ oder ‘verrückt’ sie uns auch erscheinen mögen“, können immer nur Hypothese sein, so die Kernthese des Autors. Zentrales Element seiner Argumentation ist die „Predictive-Processing-Theorie“, die erklärt, wie unser Gehirn externe Reize rezipiert und sinnstiftend weiterverarbeitet. Das Gehirn als „Vorhersagemaschine“, so Sterzer, habe im Laufe der Evolutionsgeschichte eine Vorhersagehierarchie entwickelt. Auf der unteren Ebene rangierten die perzeptuellen Vorhersagen, die auf konkreten Wahrnehmungen konkreter Objekte oder Phänomene basieren. Dem übergeordnet seien die kognitiven Vorhersagen, die Hypothesen beinhalten, wie die beobachteten Dinge oder Ereignisse erklärt werden können. Auf dieser Ebene entsteht das, was man heute auf neudeutsch als Narrativ bezeichnet. Bei Menschen mit Schizophrenie, dem Spezialgebiet Sterzers, sei die kognitive Vorhersageebene überausgeprägt, so daß hinter jeder noch so alltäglichen Wahrnehmung ein zumeist böser, gegen die eigene Person gerichteter Plan vermutet werde. Evolutionär habe sich dieser Mechanismus durchsetzen können, weil es der natürlichen Selektion nicht um Wahrheit gehe, sondern darum, die Chancen für Fortpflanzung und Überleben zu erhöhen. Und wer sich immer in Gefahr wähnt, agiert vorsichtiger und überlebt somit häufiger als weniger vorsichtige Menschen, auch wenn die Gefahren zumeist nur eingebildete Kopfgeburten einer hyperaktiven Vorhersagemaschine sind.

Wahn definiert Sterzer als „epistemisch irrationale Überzeugung“, also eine Überzeugung, die verfügbarer Evidenz widerspricht. Nicht jede wahnhafte Überzeugung sei jedoch gleich ein Fall für den Psychiater. Gerade weil der kognitive Vorhersageapparat unseres Gehirns sich evolutionär durchaus als Vorteil erwiesen und sich dementsprechend durchgesetzt hat, neigen wir alle in unterschiedlichem Maße dazu, Sinn auch jenseits der objektiven Faktenlage zu suchen. Ist Vernunft für Sterzer also lediglich ein evolutionäres Nebenprodukt, um das eigene Überleben zu sichern? Denn sicherlich muß es als vernünftig gelten, die Chancen des eigenen Überlebens zu erhöhen. Im abschließenden Kapitel zeigt Sterzer, daß Vernunft für ihn doch mehr ist als Illusion. Hier reproduziert er eins zu eins die Regierungspropaganda zu Hochzeiten der Corona-Pandemie, Ungeimpfte seien für den Tod von alten und immungeschwächten Menschen verantwortlich. Eine klare epistemisch irrationale Falschbehauptung, da mittlerweile Konsens darüber herrscht, daß die Impfung weder vor einer Ansteckung schützt, noch eine Weitergabe des Virus an andere Personen verhindert. Warum der kühle Analytiker wahnhafter Überzeugungen an dieser Stelle im Namen der Vernunft mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger eine eben solche vertritt, bleibt sein Geheimnis. Empfehlenswert bleibt das Buch dennoch für alle, die über den Lesefluß störenden Gebrauch des Genderdoppelpunktes hinwegzusehen bereit sind.

Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft.Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Ullstein Verlag, Berlin 2022, gebunden, 320 Seiten, 23,99 Euro