© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Edelfisch und Schweinefleisch
Bedrohen chinesische und EU-Trawler die Fischbestände und Fischer Mauretaniens?
Christoph Keller

Die Islamische Republik Mauretanien, mit einer Million Quadratkilometern fast dreimal so groß wie Deutschland, war bis 1960 Teil von Französisch-Westafrika. Dank seiner 600 Kilometer langen Atlantikküste ist der arme Wüstenstaat (Jahreswirtschaftsleistung pro Kopf 2021: 1.700 Dollar) aber zugleich eine bedeutende Fischerei-Nation. Mit den reichen Fischressourcen, die es innerhalb seiner 200-Meilen-Zonen nutzen könnte, ließe sich nicht nur die auf knapp fünf Millionen angewachsene Bevölkerung ausreichend versorgen, sondern auch die seiner östlichen Nachbarn im Sahel-Gürtel: Mali, Obervolta (Burkina-Faso) oder Niger.

Trotz dieser idealen Ausgangslage befindet sich die seit 1975 aufgebaute mauretanische Fischindustrie aber im Niedergang. Tausende von Fischern sind arbeitslos. Die in anderen Weltregionen, etwa dem Nordatlantik oder der Ostsee, dafür naheliegende Diagnose lautet regelmäßig „Überfischung“. Eine Erkenntnis, die Issio Ehrichs Reportage über die mauretanische Malaise jedoch nur teilweise bestätigt (Greenpeace Magazin, 6/22). Vielmehr ist es ein komplexes Ursachenbündel, aus dem die aktuelle Krisenlage entstanden ist. Wesentlichen Anteil daran hat die in den 1970ern getroffene Entscheidung, den Fischreichtum nicht mit einer eignen Trawler-Flotte auszubeuten, sondern sich vorwiegend auf die traditionelle Küstenfischerei mit offenen Holzbooten zu beschränken.

So entfiel der Hauptanteil am Fang auf ausländische Fangschiffe. Chinesen, Russen, Europäer und Türken fischen in mauretanischen Gewässern mit Lizenzen. Die EU hat im Sommer 2022 sogar den größten Fischereivertrag mit Mauretanien abgeschlossen, den sie je mit einem Drittstaat vereinbart hat. Schiffe, die im Auftrag von EU-Mitgliedern (vor allem Portugal, Spanien, Frankreich) im mittleren Atlantik unterwegs sind, dürfen jährlich 290.000 Tonnen vor Mauretaniens Küsten fangen. Sorgen um die Stabilität der Fischpopulationen scheine sich, wie Ehrich anmerkt, in Brüssel niemand zu machen.

„Die meisten Arten in unseren Gewässern sind überfischt“

Man vertraut offenbar auf die Einschätzung der Welternährungsorganisation FAO, der zufolge die meisten Bestände nicht in Gefahr seien zu kollabieren. Ausnahmen seien nur Goldsardine und der Bonga, beides Heringsverwandte, die riesige Schwärme bilden. Bei diesen Arten, räumt auch die FAO ein, seien historische Tiefstände erreicht. Hingegen behauptet das mauretanische Institut für Meereskunde und Fischereiforschung: „Die meisten Arten in unseren Gewässern sind überfischt.“ Ob das stimmt, war für Ehrich nicht zu überprüfen. Auf eine Interviewanfrage antwortete der seit Anfang 2022 im Amt befindliche Fischereiminister Mohamed Abidine Mayif nicht.

Wieviel Fisch von den ausländischen Lizenznehmern wirklich gefangen wird, darüber dürften mauretanische Behörden auch keine belastbaren Daten haben. Zumal seit 2016 300 zivile Inspekteure der Küstenwache, die den Fang an Bord fremder Trawler überprüft haben, durch Militärs ersetzt wurden. In einem Land, das auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf Rang 140 von 180 Staaten liegt, hat sich das Bestechungsunwesen seitdem endgültig in der Fischereiaufsicht etabliert.

Die Übersicht über ausländische Fangerträge ist seit Jahrzehnten ohnehin schon dadurch erschwert, daß die konventionelle Fischwirtschaft mit einer Industrie konkurriert, der Kritiker vorwerfen, die wahren Zerstörer der mauretanischen Fischbestände zu sein. Dabei handelt es sich um die Fischmehlindustrie, die mittlerweile mit 50 Fabriken im äußersten Nordwesten des Landes, auf der Halbinsel Nouadhibou, konzentriert ist. Dort wird der Fisch gekocht, gepreßt und zu Mehl und Öl verarbeitet. Offizielle Zahlen seien nicht zu bekommen, aber Schätzungen zufolge dürften allein 2020 mehr als die Hälfte der Gesamtfangmenge so weiterverarbeitet nach Europa und Asien verschifft worden sein.

Dort wird das Produkt in der Massentierhaltung verfüttert, vor allem in Lachsfarmen: „Die Welt ißt heute fast so viel Fisch aus Aquakulturen wie Wildfänge.“ Fischmehl und Öl landen überdies in den Trögen von Schweinen und Hühnern. Ohne das Fischmehl als Proteinquelle für die Massentierhaltung wäre es schwieriger, den Appetit der Europäer und Chinesen auf Edelfisch und billiges Schweinefleisch zu stillen. „Und während die Fänge weltweit stagnieren, hat das Geschäft damit an der Atlantikküste Westafrikas einen enormen Aufschwung genommen, was gleichfalls nicht zu der „Überfischungs“-These passen will. Denn zwischen 2010 und 2019 verzehnfachte sich die Produktion von Fischmehl und Fischöl aus den in Mauretanien angelandeten Fängen.

Aufklärungsprogramme und Kühlketten bis in die Wüste?

Für die Menschen ist dieser Boom indes kein Segen. Benötigen Fischmehlfabriken doch nur wenige Arbeitskräfte, da Maschinen jeden Schritt der Produktion übernehmen. Überdies sind für die Erzeugung einer Tonne Mehl bis zu fünf Tonnen Fisch erforderlich, der in Fabriken der konventionellen Fischwirtschaft, die die menschliche Nachfrage befriedigen, fehlt. 150.000 Menschen, die Küstenfischer eingeschlossen, beschäftigt Mauretaniens konventionelle Fischwirtschaft. Arbeitsplätze, die durch die Fischmehlindustrie bedroht sind. Und der Druck auf den Arbeitsmarkt nehme infolge der Bevölkerungsexplosion weiter stark zu.

Zwischen 1960 und 2020 ist die Bevölkerung um fast das Sechsfache auf 4,7 Millionen gestiegen. Bis 2050 soll sie sich auf dann 8,9 Millionen Menschen fast verdoppeln. Von denen die meisten, wie Ehrich voraussieht, sich in den wenigen Städten drängen, da mit dem Klimawandel die Dürren zunehmen und das häufig noch nomadische Leben in den Wüsten Mauretaniens immer schwieriger machen. Selbst diese Massen könnten mühelos mit Fisch ernährt werden, vorausgesetzt, die unersättliche, ausschließlich für die Menschen des globalen Nordens produzierende Fischmehlindustrie Mauretaniens würde zurückgefahren. Eine Hoffnung, die sich für Ehrich bald erfüllen könnte, weil es „Anzeichen“ dafür gäbe, daß der Nachschub stocke. Weil die nicht nachhaltige Fischmehlproduktion in den bisherigen Größenordnungen selbst die Bestände des außergewöhnlich nährstoffreichen Meeres vor Westafrika erschöpfe.

Aber auch ein Umsteuern zugunsten der konventionellen Fischwirtschaft müsse nicht automatisch bewirken, daß Fisch in Mauretanien und im von Hunger geplagten Sahel künftig zum Volksnahrungsmittel wird. Noch heute gehen 600.000 Tonnen gefrorener Fisch überwiegend nach Südafrika und Asien. Um den heimischen Absatz zu erhöhen, müßte ein Bewußtseinswandel die Ernährungsgewohnheiten revolutionieren, da die meisten Mauretanier Fleisch, Gemüse und Obst, aber keinen Fisch essen. „Es bräuchte Aufklärungsprogramme, um das zu ändern. Und funktionierende Kühlketten bis in die Wüste.“

EU-Behörde für Fischerei und Aquakultur:

 www.eumofa.eu