© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Der Flaneur
Schöne Vorbilder
René Langner

Frühstückspause in der Cafeteria. Am Nachbartisch sitzen zwei junge Damen aus der Buchhaltung. Da wir uns nur flüchtig kennen, beschränkt sich unsere Kommunikation auf ein kurzes „Guten Morgen“-Kopfnicken.

Während ich die Tageszeitung lese, unterhält man sich neben mir so angeregt, daß ich nicht umherkomme, als dem Gespräch zu folgen. Es geht um „die Schönheit“. Während die eine lediglich ihre Lippen aufspritzen möchte, hat die andere bereits einen Termin zur Nasenkorrektur vereinbart.

Später am Schreibtisch muß ich an ein Gespräch mit meinem Sohn über Mobbing denken.

Als ich etwas später wieder an meinem Schreibtisch sitze, versuche ich noch immer zu verstehen, warum ausgerechnet zwei attraktive Frauen über Schönheitsoperationen debattieren müssen. In diesem Moment kommt mir ein Gespräch mit meinem Sohn in den Sinn. Er erzählte mir, daß in der Schule sehr ausgiebig über Mobbing gesprochen wurde. Hintergrund war ein Junge, der ausgegrenzt und beleidigt wurde.

Die Gründe dafür: der Kleine ist übergewichtig, hat einen leichten Sprachfehler und trägt keine Markenkleidung. Was ich dazu zu sagen hatte? Vermutlich das gleiche, was viele Eltern in solchen Fällen zu sagen pflegen: „Kinder sind halt so.“

Schlagartig sehe ich es anders. Wie viele Stunden verbringen wir selbst in sozialen Netzwerken und erfreuen uns an „normschönen“ Menschen? Wie oft bewundern wir erfolgreiche Charaktere, während wir über Verlierer nicht selten müde lächeln? Setzen wir nicht höchstpersönlich Status oder Wohlstand ganz weit oben auf unsere Agenda? Die Kinder übernehmen in erster Linie unser eigenes Verhalten.

Am Abend unterhalte ich mich mit meinem Sohn. Diesmal jedoch ein wenig anders als sonst. Wir sprechen über schlechte Noten, vermeintliche Verfehlungen und Mißerfolge aller Art. Er soll erkennen, daß keiner perfekt ist und wir alle Fehler haben. Er kann wissen, daß ich stolz auf ihn bin, vor allem dann, wenn es einmal nicht so läuft. 

Und er soll verstehen, daß das Leben nicht immer von außen gut aussehen, sondern sich vor allem von innen gut anfühlen muß. Ich hoffe, daß auch meine zwei Kolleginnen das erkennen.