© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Der eingefrorene Konflikt
Ukraine-Krieg: Argumente für Friedensverhandlungen / Wirtschaftliche US-Ziele erreicht?
Dirk Meyer

Im November berichtete das Wall Street Journal erstmals über lauter werdende Stimmen in Washington, welche über das Einfrieren von Kampfhandlungen, umsetzbare Bedingungen eines Friedens und die Aufnahme von Friedensverhandlungen diskutierten. Angesichts des Leids der ukrainischen Bevölkerung, der zerstörten Infrastruktur, des hohen Blutzolls beider Kriegsparteien, der Gefahr einer Eskalation des Konfliktes, der Umweltlasten und nicht zuletzt der ausufernden Kosten wäre ein Ende des Krieges ein Gewinn für alle Beteiligten. Rußland ist nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch stark geschwächt.

Laut Weltbank-Prognose wird die russische Wirtschaft 2023 um 3,3 Prozent schrumpfen – obwohl der Militärsektor boomt. Die westlichen Technologie-Sanktionen verhindern aber den Import von Vorprodukten, welche für die Rüstungs-, die Flugzeug- und die Autoindustrie unverzichtbar sind. Je länger diese Sanktionen fortdauern, desto tiefere Einschnitte treffen die russische Volkswirtschaft. Erdöl muß mit Preisnachlässen an China und Indien verkauft werden. Nicht nur wegen der geringeren Erdgaserlöse klafft ein 45-Milliarden-Euro-Loch im Staatshaushalt. Das „System Putin“ ist angeschlagen. Der Wohlstand in der Bevölkerung sinkt. Die strategische Niederlage Rußlands, keine Vorherrschaft über die Ukraine zu erlangen, würde – eingebunden in eine Nato-garantierte Friedensordnung – das Land von weiteren „Rückholungen russischer Erde“ abhalten.

Wiederaufbau bringt der Bau- und Energiewirtschaft neue Aufträge

Der Krieg hat allein bis November 2022 weltweit Regierungsunterstützungen für die Ukraine im Umfang 113,1 Milliarden Euro an direkten militärischen, humanitären und finanziellen Hilfen notwendig gemacht. Davon kommen 51,8 Milliarden Euro von der EU und deren Mitgliedstaaten sowie 47,8 Milliarden Euro aus den USA. Etwa 40 Milliarden Euro (35 Prozent) sind direkte Militärhilfen. Zukünftige US-Hilfen könnten an der Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus scheitern. Ein Abnutzungskrieg würde die militärische Lage kaum verändern. Vielmehr könnte die Situation durch russische Versuche, westliche Nachschublieferungen zu unterbinden, unvorhersehbar eskalieren. Zudem würde eine Fortführung des Krieges Moskau und Peking in ein Bündnis zwingen – militärisch durch Waffenhilfen Chinas, ökonomisch durch billige Energie- und Rohstofflieferungen Rußlands. Dies gilt es zu verhindern. Insoweit bestehen im Westen übereinstimmende Interessen.

Doch die US-Regierung scheint weitere Motive zu haben. Nach der Demütigung in Folge des Afghanistan-Rückzugs kann Joe Biden wieder als Führer der freien Welt agieren – ohne den Einsatz von amerikanischen Soldaten und zu vergleichsweise geringen Kosten in einem Stellvertreterkrieg, der eine nachhaltige Schwächung Rußlands bringt. Die Ukraine ist zerstört. Der Wiederaufbau bei derzeit vage geschätzten Kosten in Höhe von 350 Milliarden (Weltbank) bis 750 Milliarden Euro (ukrainische Regierung) ist kostspielig. Als Faustformel gilt, daß die Vermögenswerte eines Landes dreimal so hoch sind wie die Jahreswirtschaftsleistung. Bei einem Vorkriegs-Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine von 200 Milliarden Euro wird deren Gesamtvermögen auf 600 Milliarden Euro geschätzt.

Über Planung, Durchführung und Finanzierung des Wiederaufbaus wird bereits intensiv diskutiert. Indem die USA seit dem Sturz der prorussischen Regierung von Viktor Janukowitsch (Februar 2014) neben intensiven militärischen auch engere wirtschaftliche Beziehungen geknüpft haben, könnte den Amerikanern hier eine Führungsrolle zufallen. Der Wiederaufbau böte deshalb neben europäischen insbesondere US-Unternehmen aus der Bau- und Energiewirtschaft lukrative Aufträge. Hinzu kommt das amerikanische Interesse, Zugang zu erheblichen Vorkommen an Bodenschätzen zu erhalten: Titan-, Eisenerz und Seltene Erden.

Die EU-Kommission hat eine Steuerungsplattform „Rebuild Ukraine“ in Planung, an der Brüssel, aber auch andere westliche Industrieländer wie die USA maßgeblich beteiligt wären. Die europäische Finanzierung soll durch EU-Kredite bereitgestellt werden. Über die EU-Investitionsbank EIB könnten Kredite im Umfang von 100 Milliarden Euro vergeben werden, davon 20 Milliarden Euro von den nationalen Regierungen und der EU-Kommission und 80 Milliarden Euro an privatem Kapital für Infrastrukturprojekte. Die Kredite sollen die EU-Mitgliedstaaten garantieren. Als Blaupause dient der kreditfinanzierte 750-Milliarden-Coronafonds Next Generation EU. Privates Kapital will auch die australische Anlagegesellschaft der Forrest-Familie mit einer Anschubfinanzierung von 25 Milliarden Dollar zusammen mit der US-Investmentgesellschaft Blackrock zur Verfügung stellen, wobei langfristig mit einem Anlagevolumen von 100 Milliarden Dollar gerechnet wird. Den größten Coup erzielten die USA jedoch mit dem Sanktionsregime, welches das Zahlungssystem Swift, die Schließung von – vor allem europäischen und japanischen – Produktionsstätten in Rußland und eine Umlenkung der Energieströme betrifft.

Verlorene Wettbewerbsfähigkeit und drohende Deindustrialisierung

Volle Auftragsbücher der US-Rüstungswirtschaft und Zusatzgewinne bei ExxonMobil, Chevron und ConocoPhillips sind ein Ergebnis. Neben russischen Lieferausfällen haben eine massive Verknappung russischer Energieimporte durch EU-Sanktionen (Verbot von Zahlungen in Rubel, Importverbot von russischem Öl per Tanker, eine Preisobergrenze von 60 Dollar pro Barrel für russisches Öl) und „Sonderopfer“ der Bundesregierung (Stopp des Genehmigungsverfahrens für Nord Stream 2; Selbstverpflichtung zum Verzicht auf Pipeline-Öl zur PCK-Raffinerie in Schwedt) die Energiepreise explodieren lassen.

Daneben leidet die deutsche Industrie laut eigener Aussage zusätzlich durch eine fragwürdige Energiewende-Politik (Atom- und Kohleausstieg, schleppender Ausbau der Stromnetze). Langfristig könnte der Erdgaspreis in Europa etwa das Dreifache dessen in den USA betragen. Ähnliches gilt für die Strompreise. Als Folge der verlorenen Wettbewerbsfähigkeit würde eine De-Industrialisierung Deutschlands drohen. 85 Prozent der Ausgaben für Forschung und Entwicklung entfallen auf Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes. Bei deren Abwanderung würde ein bedeutender Innovationstreiber verlorengehen. Die USA würden durch die Verlagerung der Wertschöpfungsketten profitieren.

Zudem werden Erdgas-Abhängigkeiten nicht – wie offiziell betont – beseitigt, sondern nur ausgetauscht. Während 2021 die EU-Erdgasimporte zu 41 Prozent aus Rußland und zu 23 Prozent aus Norwegen als den beiden größten Lieferländer kamen, entfallen auf die USA 2030 nach einer Prognose des Energiewirtschaftlichen Instituts der Uni Köln 39 Prozent und auf Norwegen 28 Prozent – quasi ein Austausch der Abhängigkeiten: „America first“ in jeder Hinsicht.






Prof. Dr. Dirk Meyer (65) lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Foto: Paletten mit Munition für die Ukraine auf der Dover Air Force Base in Delaware: Nach der Demütigung des Afghanistan-Rückzugs kann Joe Biden wieder als Führer der freien Welt agieren – ohne den Einsatz von amerikanischen Soldaten zu riskieren