© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

„Nicht mehr meine Heimat“
Drohender Kollaps: 1,2 Millionen Flüchtlinge innerhalb eines Jahres in Deutschland. Kommunen stampfen verzweifelt Flüchtlingsheime aus dem Boden, und der deutsche Bürger fühlt sich fremd im eigenen Land
Martina Meckelein

Eine bisher noch nie erlebte Migrantenwelle überschwemmt Deutschland: 1,25 Millionen Menschen allein im vergangenen Jahr. Die Kommunen wissen nicht mehr, wohin mit ihnen – es fehlt an Platz für Unterkünfte und an Geld. Proteste in ganz Deutschland von Grevesmühlen in Mecklenburg-Vorpommern bis Bernkastel-Kues in Rheinland-Pfalz sind die Folge. Der Städtebund fordert einen Kanzlergipfel. In der Bundeshauptstadt wird hingegen still und leise unverdrossen gebaut. 570 Flüchtlinge sollen in einem Neubau untergebracht werden. Ein Ortstermin.

Wer mit der U7, sie fährt zwischen Rudow und Spandau, am Mierendorffplatz aussteigt, sollte nicht darauf hoffen, den schönen Platz zu sehen, der als Schwarzweißfoto im Zwischengeschoß der Haltestelle an einer Wand hängt. Die schmale ausgelatschte Betontreppe, die auf die Sömmeringstraße führt, ist so häßlich und zugig wie die Straßenkreuzung oben. Ab hier sind es noch rund dreihundert Meter bis zum im Bau befindlichen Flüchtlingsheim. Es hämmert, bohrt, Kräne drehen sich wie von Geisterhand. Überall stapfen Bauarbeiter durch Schlamm und Dreck. Reges Treiben in der Quedlinburger Straße in Berlin-Charlottenburg. Hier entsteht in Windeseile und mit Hilfe der Änderung des Paragrafen 246 Bundesbaugesetz, Sonderregelung für Flüchtlingsunterkünfte, das überaus groß dimensionierte Heim, das schon in neun Monaten fertig sein soll. Für Anwohner und Nachbarn ein Desaster. Was beim Bürger zurückbleibt, ist ein Ohnmachtsgefühl gegen eine übermächtige politisch-mediale Clique.

„Ich kann mit diesem Staat nichts mehr anfangen“, sagt ein Handwerker im Blaumann. Er hat sich in einem Imbiß schnell einen Kaffee geholt. „Ich meine nicht Deutschland, ich meine dieses System“, sagt er eilig. Er muß zu seiner Baustelle zurück, noch einen Handlauf abschleifen. Zum Abschied sagt er noch: „Die Politiker sollte man alle teeren und federn.“ Es geht um den Bau des Q45. So heißt der riesige Klotz. Sein Kürzel hat er nach der Quedlinburger Straße und der Hausnummer. 146 Wohnungen, 73 davon barrierefrei, entstehen hier. Dazu eine Kita mit 60 Plätzen und ein Kieztreff. Besonderheiten seien eine modulare Gebäudestruktur, die Erstnutzung erfolge durch das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), die Nachnutzung der Wohnungen erfolge durch Studierende. Baustart war im Oktober 2021, die Fertigstellung ist für Oktober 2023 geplant. Ganz schön flott, wenn man bedenkt, daß dieses Bundesland fünf Jahre braucht, um zwei öffentliche Pissoirs zu bauen.

„Klar, für die Flüchtlinge gibt es Wohnungen, für uns Deutsche nicht“, sagt ein anderer Mann und beißt in ein Stück Currywurst. Der Imbiß ist einer der immer weniger werdenden deutschen Läden. „Normale Deutsche können sich die Mieten hier gar nicht leisten“, sagt der Inhaber hinterm Tresen. „Die Läden sind hier in türkischer, arabischer oder chinesischer Hand. Die zahlen bei Neuvermietung jeden Preis. Wir sind nur hiergeblieben, weil wir noch einen alten Mietvertrag haben.“ Der Imbiß war vor vielen Jahren eine Schlachterei, das ist vorbei. „Ach wissen Sie, ich bin schon 78 Jahre alt und froh, nicht mehr allzu lange zu leben“, sagt eine Anwohnerin. „Es wird doch alles schlechter. Ich will das Viertel in zehn Jahren nicht mehr sehen, das ist dann nicht mehr meine Heimat. Mir tut es nur um die Kinder leid. Mein Sohn sucht seit zwei Jahren hier eine Wohnung, da ist nichts zu machen.“

Die Insel, so bezeichnen die alteingesessenen Mierendorffer ihren Kiez, wird begrenzt im Westen und Süden von der Spree, im Osten vom Charlottenburger Verbindungskanal und im Norden vom Westhafenkanal. In dieser sogenannten Bezirksregion leben auf 1,895 Quadratkilometern 15.153 Menschen, allein 27,1 Prozent sind ausländische  Staatsbürger. Angaben der Dorfwerkstadt zufolge  hatten bereits vor zehn Jahren 41 Prozent der Bewohner einen Migrationshintergrund. Besonders in der Altersgruppe der unter 18jährigen bestand vor knapp zehn Jahren bereits ein Migrantenanteil von 66,1 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Tendenz steigend – und jetzt noch das Asylheim. Platz bietet es für 570 Personen. Gebaut wird es von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte GmbH (WBM). Sie ist eine von sechs städtischen Wohnungsbaugesellschaften und verwaltet 30.000 Wohnungen (Stand 1. Januar 2017). „Da kommen Studenten rein“, frohlockt ein Asiate, der in der Nähe einen Imbiß betreibt. Als er hört, daß es Flüchtlinge sein werden, ist sein Kommentar: „Nicht gut, keine Geschäfte.“

Das sahen die WBM-Mitarbeiter Christina Geib und Steffen Helbig ersten Spatenstich im Herbst 2021 völlig anders. „Die WBM realisiert hier eine Planung, die dem gesamten Quartier einen Mehrwert bringt“, frohlockten sie. Dieser Neubau biete „rund 500 Neu-Berliner*innen“ nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern denke „die Bedürfnisse der Anwohner*innen“ mit, malte der grüne Bezirksstadtrat Oliver Schruoffeneger ein positives Bild. Alexander Straßmeir, Präsident des LAF, schlug in die gleiche Kerbe: „Die moderne Architektur des neuen Gebäudes, die Nutzungsvielfalt in den Gemeinschaftsräumen sowie das gute Umfeld im Bezirk bietet den Bewohner*innen die notwendige Basis, um eine erfolgreiche Integration gewährleisten zu können.“

Doch nicht nur über die Belegung, auch über die Vermietungsdauer herrscht Ungewißheit. Von fünf Jahren gehen viele Nachbarn aus. Dabei sind es elf Jahre. „Die Mietverträge zwischen dem LAF und den Wohnungsbaugesellschaften werden für fünf Jahre fest mit der Option einer zweimaligen Verlängerung um jeweils drei Jahre abgeschlossen“, heißt es offiziell auf der Seite der WBM.

Direkt neben dem Q45 steht ein Neubau. „Hier haben viele Eigentumswohnungen zum Selbstnutzen gekauft“, weiß der Currywurstverkäufer. „Zwei Kunden von mir wohnen da, versuchen seit einem Jahr ihre Dachgeschoßwohnungen loszuwerden. Erfolglos. Einer der Betroffenen sagte mir, er habe jetzt schon einen Werteverlust von 100.000 Euro.“

„Na, schauen wir mal, wie sich die Situation hier entwickelt“, sagt ein Geschäftsinhaber direkt gegenüber dem Rohbau. Informationen seitens der Politik gab es nicht, sagt er. „Mir ist es auch egal, ich muß hier eh bald raus, bin nur Untermieter, und in meiner Ladengröße finde ich hier sowieso nichts auf der Insel.“ Eine ältere Dame bleibt vor dem Rohbau stehen. Sie zieht einen Trolley hinter sich her, kommt vom Einkaufen. „Es wird nicht sicherer hier, wenn so viele junge Männer hier einziehen.“

 Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) veröffentlichte im Januar 2023 für das vergangene Jahr Zahlen für nichtukrainische Schutzsuchende. Demnach stellten 244.132 Menschen in Deutschland einen Asylantrag (siehe Kasten), die Zahl stieg im Vergleich zum Vorjahr mit 190.816 Anträgen, um 27,9 Prozent. Dazu differenzierte die Behörde für 2022 die Zahlen: „Im Zeitraum Januar bis Dezember 2022 waren 73,1 Prozent der einen Asylerstantrag stellenden Personen jünger als 30 Jahre, 37,3 Prozent waren minderjährig. 67,8 Prozent aller Erstantragstellenden waren männlich.“ 

Die Zahl der antragstellenden Männer zwischen 16 und unter 45 Jahren betrug 102.126, die der Frauen im selben Alter 30.955.

Berlin schließt Abschiebeterminal auf dem Flughafen im März 2023

Unabhängig davon nahm Deutschland dazu noch über eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine auf, die gar keinen Asylantrag stellen müssen und demnach nicht in die Statistik einfließen. Übrigens entschied das BAMF 56,2 Prozent der Anträge positiv. Selbst wenn nicht positiv beschieden wird: Das Magazin Der Spiegel berichtete am 24. Juni 2022 aus einem internen Lagebild von Bund und Ländern, demzufolge sich „zuletzt 297.219 Ausreisepflichtige in der Bundesrepublik aufhielten.“ Nun, aus Berlin können die jedenfalls nicht mehr abgeschoben werden: „Wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage von Welt am Sonntag bestätigt, läuft der „Mietvertrag zwischen der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) und der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH für das derzeit für Rückführungsmaßnahmen genutzte Terminal 5 am BER“ am 31. März 2023 aus. Der Bund gehe, so die Zeitung, demnach davon aus, daß die „Inbetriebnahme“ der Nachfolgeeinrichtung erst „Ende 2025 erfolgen kann“, so ein Ministeriumssprecher.

Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager (CDU), fordert in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung  ein Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz. Sager warnt vor einem großen Schaden in Deutschland. Die hohe Zahl an Zuzügen durch Kriegsflüchtlinge, Asylbewerber und Migranten brächten die Landkreise an ihre Grenzen. Es fehle darüber hinaus an der Finanzierung. Allein bei den Wohnkosten für anerkannte Flüchtlinge klaffe eine Finanzierungslücke von zwei Milliarden Euro pro Jahr. Der Zuzug müsse begrenzt werden.

Und Berlin? Das Heim wird stehen, die Menschen werden einziehen. Die einzige Hoffnung für die Nachbarn: „Daß es keine Verlängerung der Anmietung gibt“, sagt der Imbißbetreiber.