© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 8/23 / 15. Februar 2023

Thalers Streifzüge

Es war so kalt, daß selbst der Wind fror.“ – Was für ein großartiger erster Satz, zum Niederknien und Innehalten. Mit ihm leitet Dirk Gieselmann seinen Debütroman „Der Inselmann“ ein, der soeben bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Darin geht es um eine Familie, die auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees zieht. Hauptfigur ist der anfangs zehnjährige Sohn Hans, schüchtern, genügsam, in der Stadt von den Nachbars-jungen gepiesackt. Die Lieblosigkeit der Eltern nimmt er standhaft hin. Auf der Insel jedoch fühlt er sich bald als König in seiner eigenen kleinen Traumwelt – bis die Schulbehörde ihn abholt und in einer Erziehungsanstalt unterbringt. Wird er je auf die Insel zurückkehren? Der US-Literaturnobelpreisträger William Faulkner empfahl einer jungen Autorin einst: „Du mußt den ersten Satz einer Geschichte so schreiben, daß, wer immer ihn liest, auch den zweiten lesen will.“ Gieselmanns einleitendes Sprachbild, das einen buchstäblich frösteln läßt, löst diesen Anspruch locker ein. Sein Roman ist, wie die Verlagswerbung nicht zuviel verspricht, „voller berückender Bilder“ und „leuchtender Sätze“. Beispiele gefällig? Während die Familie in eisiger Kälte, es ist Mitte Dezember, auf den Schiffer wartet, der sie auf die Insel bringen soll, heißt es lakonisch über die Mutter, sie „zählte ihre Füße“. Und als der Kahn schließlich in der Ferne zu hören ist: „Es gibt ein Geräusch, das den anderen vorausgeht: das empörte Raunen der Stille, wenn sie vertrieben wird.“ Schön auch dieser Satz an anderer Stelle: „Ein Jahr, das zurückliegt, ist kürzer als ein Tag, der niemals kommen wird.“ Klare Lektüreempfehlung!

Simon Strauß erzählt davon, wie zwei Fremde, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zueinanderfinden.

Hinreißend ist auch das neue Buch von Simon Strauß, die Novelle „Zu zweit“ (Tropen Verlag, Stuttgart 2023, gebunden, 160 Seiten, 22 Euro). Der Sohn von Botho Strauß, Althistoriker, Theaterkritiker und FAZ-Feuilletonist, erzählt darin von einem gehemmten einsamen Mann, von Beruf Teppichhändler, den der „Gedanke an die Wiederkehr des Immergleichen bedrückt“, sowie von der unerhörten Begebenheit, wie zwei Fremde, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zueinanderfinden, weil eine kleine alte Stadt von einer apokalyptischen Sintflut heimgesucht wird. „Gar nicht leicht zu erklären“, heißt es im Epilog dieser über alle Vordergründigkeit eines Liebesschicksals hinausweisenden Geschichte, „warum zwei zusammenkommen. Wie es sein kann, daß am Ende Namen von zweien auf einem Stein stehen, die am Anfang gar nichts voneinander wußten.“


Lesefundstück: „Die Despoten der Wahrheit marschieren nicht in Uniform, sie sprechen leise und verständnisvoll, geben vor, es gut zu meinen. (…) Hütet euch vor den Wahrheitsbesitzern. (…) Sie verdrehen die Worte, pervertieren die Werte, höhlen Institutionen aus, errichten Altäre, Götzen, falsche Heilige, denen gehuldigt werden soll. (…) Ihr Hauptfeind ist die Wirklichkeit. Sie ersetzen sie durch Kulissen, durch Konstrukte und Behauptungen, die niemand hinterfragen darf. “ (Chefredakteur Roger Köppel in seinem Editorial der Schweizer Weltwoche vom 9. Februar 2023)