© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Marc Felix Serrao hat in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung sein Mißfallen im Hinblick auf das Ergebnis einer Umfrage bekundet, der zufolge bei einem kriegerischen Angriff auf Deutschland nur jeder zehnte Bundesbürger zum Militärdienst bereit wäre. Lediglich fünf Prozent würden sich freiwillig melden, während die Mehrheit entweder mit geräuschloser Anpassung (33 Prozent) oder Flucht reagieren würde (24 Prozent). Serrao erläutert das Ergebnis mit der Feststellung: „Die Deutschen hadern mit sich wie kein anderes Volk, bis heute.“ Dem ist kaum zu widersprechen. Anders steht es mit der Behauptung, das sei auf ein in Folge des Nationalsozialismus „gebrochenes“ Verhältnis zu sich selbst zurückzuführen. Wenn das so wäre, hätte der von Serrao diagnostizierte Wehrunwille in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgrund der zeitlichen Nähe zur NS-Zeit stärker sein müssen als heute. Davon kann aber keine Rede sein. Denn entscheidend ist nicht die Spätwirkung der braunen Vergangenheit, sondern die Art und Weise, wie sie erinnert und dazu genutzt wird, den Deutschen den aufrechten Gang unmöglich zu machen und etwas wie Selbstbehauptungswillen zurückzugewinnen. 

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Nach Meinung des Völkerkundlers Theodor-Wilhelm Danzel hat die Differenzierung der persönlichen Anrede tiefe kulturelle Wurzeln. Das unterschiedslose Duzen erscheint demgegenüber als typisch moderne Verfallsform. Es wurde seit dem Spätmittelalter nur einseitig vom Höheren gegenüber dem Niederen geübt und gegenseitig voneinander nahestehenden Personen. Das Ihrzen war vom 8. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nur in der Anrede des Vornehmen üblich. Das Siezen kam seit dem 17. Jahrhundert in der vornehmen Welt auf, auch von den Kindern gegenüber den Eltern, und verbreitete sich allgemeiner mit dem Aufstieg des Bürgertums. Das Erzen, die Anrede von Männern in der Dritten Person Singular, diente dazu, Distanz gegenüber dem Angeredeten auszudrücken, war seit dem 15. Jahrhundert etabliert und erhielt sich in Militär, Korporationen und dem Schulwesen bis an den Rand der Gegenwart.

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Wäre man zu anderen Zeiten mit dem Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit so umgegangen wie heute, hätten die DKP oder die SED der Berliner Republik oder die Partei der Grünen nie die politische Bühne betreten. Sie wären samt und sonders verboten worden. Weiter hätte der Verfassungsschutz selbstverständlich die Jusos beobachtet und der SPD das Etikett „in Teilen gesichert linksextrem“ angeheftet. Der Verfassungsschutzbericht wäre mächtig angeschwollen durch lange Listen mit all den Bürgerinitiativen, Stadt- und Landkommunen, Verlagen – unter Einschluß von Suhrkamp, Wagenbach und Eichborn – und Publikationen – der taz etwa –, die gegen den Staat „Schmähkritik“ übten. Gar nicht zu reden von den zahlreichen Beamten, vornehmlich im Schul- und Hochschuldienst, die ruck zuck ihren Posten verloren hätten, weil sie über die FDGO bestenfalls in höhnischem Ton sprachen, notorisch das Streben nach Wiedervereinigung untergruben, die Bundesrepublik nur als „BRD“ bezeichneten, die im „Systemvergleich“ mit der DDR stets ganz schlecht wegkam, und im Hinblick auf die „Baader-Meinhof-Gruppe“ (nicht Bande!) zwar die Methoden, aber nicht die Ziele verwarfen.

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In einer Gesellschaft, die das Kind eigentlich nur noch als „Wunschkind“ kennt, ist aus dem Blick geraten, welchen Zweck das In-die-Welt-Setzen von Nachwuchs natürlicherweise hat:  Stärkung der eigenen Familie oder Gruppe durch Vermehrung und die Unterstützung der Eltern im Rahmen des „Generationenvertrags“. Insofern kann nicht überraschen, daß ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Geburtenexplosion und dem Fehlen funktionierender Rentensysteme in den schwarzafrikanischen Staaten besteht. Lediglich acht von ihnen kennen Konzepte der Altersvorsorge. Dazu gehört auch Namibia, wo sich seit den 1990er Jahren die Geburtenrate von sechs auf drei pro Frau reduziert hat.

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„Wenn man den Code Napoléon auf ein Volk früher Stufe übertragen wollte, wäre das das gleiche, als wollte man einen Fisch zwingen, in der Luft zu atmen, unter dem Vorwand, daß alle höheren Tiere so lebten und daß das für diese Tiere durchaus bekömmlich sei.“ (Gustave Le Bon)

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Die Orientierung des Kindes und des Heranwachsenden an Vorbildern ist von der Pädagogik seit je angenommen worden, lange bevor der Begriff „role model“ in Übung kam. Allerdings sind einige neuere Erkenntnisse zum Thema doch überraschend. So kam eine Untersuchung an der University of California zu der Feststellung, daß auch die äußere Ähnlichkeit zwischen Lehrer und Schüler von Bedeutung ist. Jedenfalls erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, daß ein schwarzer Schüler einen Abschluß erwarb, der ihn zum Besuch eines Colleges qualifizierte, um 13 Prozent, wenn er an der Grundschule von einem schwarzen Lehrer unterrichtet wurde. Der Effekt ist besonders stark bei Jungen, schwächer bei Mädchen.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 17. März in der JF-Ausgabe 12/23.