© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Im Wesen auf Zerstörung angelegt
Vor 50 Jahren ist Joachim C. Fests Hitler-Biographie erschienen und löste eine hitzige Diskussion aus
Felix Dirsch

Die Veränderungen infolge des Wirtschaftswunders hatten sich in den frühen 1970er Jahren längst auf alle Bereiche von Wissenschaft und Kultur ausgewirkt. So negierte die linksdominierte Geschichtswissenschaft immer mehr die herkömmliche Sichtweise, große Männer seien das eigentliche historische Movens. Nunmehr dominierte die Perspektive sozialgeschichtlich bedeutsamer Kollektive. Die Faschismusanfälligkeit des deutschen Bürgertums stand im Vordergrund der Betrachtung, weniger der angeblich „schwache Diktator“ (Hans Mommsen) an der Spitze. Diese Wandlungen liefen indessen den Erfahrungen vieler Zeitgenossen zuwider. So fungierte das Narrativ „Hitler war’s“ für manche als bequemes Entlastungsventil. Und doch: War der „Mann des Jahres“ 1938, gekürt vom Time Magazine, nicht zu maßgeblich für den Verlauf der Geschichte zumindest zwischen 1933 und 1945 verantwortlich, als daß man ihn einfach zur austauschbaren Figur deklarieren konnte?

Der Journalist Joachim C. Fest erzählte 1973 ebenso konventionell wie populär den Lebenslauf eines grandiosen Aufsteigers, dessen später so rätselhafter Weg von den Männerwohnheimen der Stadt Wien bis in die Reichskanzlei führte – und das bar jeglicher Befähigung für seine Profession, sieht man von der rhetorischen Begabung und dem Inszenierungstalent einmal ab. Ein dilettantischer Niemand, dem zeitweise eine Weltmacht zu Füßen lag: als Führer, Heilsfigur, „Deutschlands Schicksal“ (Werner von Fritsch), Retter und Totengräber nicht nur der eigenen Nation. 

Zu Lebzeiten von frenetischer Zustimmung, aber auch Wogen des Hasses umgeben, bleibt postum nur eine unübersehbare Welt von Feinden übrig. Die Undurchdringlichkeit des Panzers an Menschenfeindlichkeit läßt eigentlich die Frage nach der Anwendbarkeit der Kategorie geschichtlicher Größe gar nicht zu, auf die der Biograph aber nicht verzichten will. Das „Scheusal“, das Golo Mann publizistisch nicht anrühren wollte, ist bei Fest mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet. Dazu gehört die Angst, die Hitler mit vielen aus dem Kleinbürgertum stammenden Zeitgenossen teilte: vor dem gesellschaftlichen Abstieg, vor sozialer Geringschätzung, später vor dem „Blutsumpf“ des Bolschewismus. Dennoch ist die Faszination der Persönlichkeit, die viele Zeitgenossen verspürten, nicht zu verleugnen. Die Zusammenarbeit Fests mit Hitlers Vertrautem Albert Speer hat zu dieser Deutung nicht wenig beigetragen.

Zu den diversen Einwänden gegen Fest zählen die Proportionen des präsentierten Materials. Die Zeit des Zweiten Weltkrieges umfaßt gerade 120 Seiten. Einige nicht unwichtige Ereignisse hat der Autor geflissentlich übergangen. Urteile wie das folgende verstören besonders den politisch korrekten Leser: „Es ist sicherlich wahr, daß die Mehrzahl der Deutschen von der Praxis in den Vernichtungslagern nichts gewußt hat und jedenfalls weit ungenauer informiert war als die Weltöffentlichkeit, die seit Ende 1941 in immer neuen Alarmrufen auf das Massenverbrechen aufmerksam gemacht worden war“. 

Der Chef des FAZ-Feuilletons hat einen Meilenstein der Hitler-Forschung gesetzt, der durch die Dokuverfilmung 1977 als „Hitler, eine Karriere“ noch publikumswirksamer wurde. Die Leistung der weit über tausendseitigen Studie wird auch dann nicht verringert, wenn man konzediert, daß einer seiner prominenten Erben, der britische Hitler-Forscher Ian Kershaw, das Wechselverhältnis zwischen Hitlers Agieren und den äußeren Rahmenbedingungen quellenadäquater dargestellt hat.