Wenn das „Nichts“ der warengesellschaftlichen Konstitution im Zerfall ökonomischer und politischer Formen immer deutlicher sichtbar wird, so eröffnen sich zwei Optionen: Dieses „Nichts“ oder nichts zu verstehen. Der Germanist und Philosoph Lorenz Bien, Jahrgang 1991, versucht in seinem Büchlein „Depressive Hedonie“ ein Phänomen zu erklären, „das letztlich auf die Sinnfrage verweist, wie, woher der Sinn komme“. Am Beispiel des britischen Kulturphilosophen Mark Fisher und dessen Debütwerk „Capitalism Realism“, das bereits 2009 erschien, beschreibt der Autor Fishers Erfahrungen als Dozent an einem Londoner College. Als Anschauungspunkt seiner Thesen dient das Verhalten seiner Studenten, die ihn zugleich faszinieren und mit Sorge erfüllen. So bemerkt er an ihnen „eine gewisse Unruhe, eine Unkonzentriertheit, ein zombiehaftes Desinteresse an der Welt, an Inhalten und am menschlichen Gegenüber“. Schon bei einfachsten Aufgaben wirkten sie überfordert, gelangweilt, und der Lehrer sieht in ihnen „etwas wie ein postalphabetisches ‘neues Fleisch’ wuchern, das zu vernetzt ist, um sich zu konzentrieren“. Wer erinnert sich bei dem Begriff „neues Fleisch“ nicht an David Cronenbergs Meisterwerk „Videodrome“, in dem der „Held“ quasi zu diesem „neuen Fleisch“ mutiert?
Natürlich sind Fishers Studenten damit alles andere als allein. Der italienische Marxist France Berardi fürchtet, daß „junge Menschen ihre prägenden Jahre in einer ständigen Beziehung zu Info-Maschinen verbringen, während sie immer weniger persönlichen Kontakt zu anderen haben“. Der Traum unserer Transhumanisten geht jedoch noch erheblich weiter, sie sollen nämlich selbst zur „Info-Maschine“ werden. Die Produktion des biopolitischen Körpers findet also längst nicht mehr nur als Rollenspiel statt, sondern mitten in der Realität der postmodernen und „bunten“ Massengesellschaft.
Völlig zu Recht kritisiert Bien hier die Rechte, wenn sie vom „Volk“ spricht, dessen Wirkmächtigkeit und Identität gegen die depresssive Hedonie kaum noch eine Chance haben. In der Dauerbetäubung durch Drogen aller Art – Yuval Harari vom WEF spricht ganz offen von „Drogen und Computerspielen für die vielen Überflüssigen“ –, sei zwar das Gefühl für Geborgenheit und Selbstsicherheit verlorengegangen, doch die Bedeutungslosigkeit der Postmoderne werde im alternativlosen Liberalismus, von dem der Kapitalismus bloß die ökonomische Erscheinungsform darstelle, nicht mehr als Ausnahmezustand und Bann wahrgenommen. Führte dies einst zur Frage der Konstitution des Staates und zur Formierung der Souveränität, präsentiert sich inzwischen der sinnlose Wille als Ausnahmezustand und Grundlage einer totalitären Totalität.
Lorenz Bien: Depressive Hedonie. Kaplaken 84. Verlag Antaios, Schnellroda 2022, gebunden, 80 Seiten, 10 Euro