Der 1980 von Ost- nach West-Berlin gewechselte Schriftsteller Klaus Schlesinger (1937–2001) reagierte sarkastisch, als er im Rahmen der Leipziger Buchmesse 1993 nach der Wiedervereinigung befragt wurde: „In der Hochzeitsnacht mag es ja einige Orgasmen gegeben haben. Heute, zweieinhalb Jahre danach, scheint mir der Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe weitgehend erfüllt.“ Daraus hat sich – so das Fazit des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann dreißig Jahre später – ein jahrzehntelanger Notzucht-Skandal entwickelt.
Der Autor ist kein Erniedrigter: Jahrgang 1967, Arbeiterjunge aus Thüringen, von 1986 bis 1993 Studium der Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Jena inklusive Studienaufenthalt in den USA. Seit 2011 ist er Professor für Neuere deutsche Literatur an der Leipziger Universität. Eine Bilderbuchkarriere! Oschmann will nicht zurück in die DDR – niemand will das! –, doch daß er die „deutsche Einheit“ als feindliche Übernahme erlebt, dafür hat er Gründe, und die benennt er unverblümt.
Der materielle Aspekt ist bekannt: 2,2 Millionen Ansprüche auf „Rückgabe vor Entschädigung“, siebzigprozentige Deindustrialisierung, vier Millionen Arbeitslose. Weil in der DDR niemand Vermögen bilden konnte, finden „Ostdeutsche“ sich heute zu Hause als Besitzlose wieder. Wer dort die Umbruchszeit erlebt hat, kennt die Geschichten von Raubrittern, die in Rostlauben am Werktor vorfuhren, mit Treuhand-Urkunden wedelten und der Belegschaft eine Standpauke hielten von wegen sozialistischem Schlendrian und Ärmelhochkrempeln. Nach einem Jahr war der Betrieb abgewickelt. Freuen konnten sich nur die Rostlaubenbesitzer, die neben neuen Autos auch die Betriebsdatschen an der Ostsee ihr eigen nannten.
Zu den Beleidigten rechnet Oschmann sich allerdings. Während die (West-)Medien über alte SED-Seilschaften lamentierten, warfen Westkader auf der Jagd nach Karrierechancen ihre Netzwerke über das demoralisierte Ostland. Oschmann hat es im akademischen Betrieb erlebt. In seinem Bereich ist er der einzige Professor mit Ostbiographie. Die neuen Lehrstuhlinhaber brachten ihre Doktoranden gleich mit, womit der Ost-Generation zwischen 1945 und 1975 alle Chancen genommen waren. Der Anteil der „Ossis“ an Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Medien, Wirtschaft, Militär beläuft sich heute auf durchschnittlich 1,7 Prozent. Eine anhaltende kulturelle, soziale, symbolische Enteignung!
Die Karrieren von Merkel und Gauck sind keine Gegenbeweise, denn sie haben ihren Ursprung in akuten Krisen des Politikbetriebs. Gauck hat mit dem Wort „Dunkeldeutschland“ seine Herkunft hyperkompensiert und Spiegel, FAZ, ARD und ZDF bestätigt, daß der „Ossi“ genauso „tickt“, wie sie es verbreiten: Er ist dumm, faul, häßlich, rassistisch, arm, ängstlich, immobil. Dem gescheiterten Kanzlerkandidaten Armin Laschet fiel ein, die DDR habe „die Köpfe der Menschen zerstört“. Wie anders dagegen das Hirn des CDU-Hanswurst aus Aachen-Burtscheid!
Jede denkbare Minderheit steht heute unter Bestandsschutz; nur am „Ossi“ demonstriert der „Wessi“ mit Schlägen unter die Gürtellinie seine Zivilcourage. Wenn der das nicht lustig findet, ist er entweder ein „Jammerossi“ oder ein antidemokratischer „Wutbürger“. Westdeutsche Sozialwissenschaftler haben längst den wirklichen Grund für die fehlende Repräsentanz von Ostbürgern herausgefunden: ihre „Selbstmarginalisierung“. Unterwürfig, wie sie nun mal sind, wollen sie gar nicht höher hinaus. Was zu beweisen war! Oder was vielmehr beweist, daß man 95 Prozent der Politik- und Sozialwissenschaften in die Tonne treten kann.
Es gibt, wie Oschmann schreibt, eine „kommunikative Asymmetrie“ in Deutschland. In der DDR gab es keine Öffentlichkeit; die nunmehrigen „Ostdeutschen“ haben sie bis heute nicht. Es gibt bloß belehrende, höhnende Westmedien. Im Buch häufen sich Worte wie „zynisch“ und „perfide“. Oschmann warnt den Leser, daß es darin schematisch, personifizierend, simplifizierend – „zorngesättigt und frei“ – zugeht, damit endlich klar wird, was Sache ist.
Die Klassifizierung des Ostens als „eine westdeutsche Erfindung“ ist jedoch falsch. Nach über vierzig Jahren der Teilung sind nun mal unterschiedliche Erfahrungsräume entstanden. Richtig und zentral ist hingegen die Aussage: „Es gibt kein gesamtdeutsches Wissen und keinen gesamtdeutschen öffentlichen Raum, weil es offenbar kein gesamtdeutsches Bewußtsein gibt oder schlicht kein übergreifendes Interesse an diesem Wissen.“ In einer Fußnote zitiert Oschmann seinen Vorgänger auf dem Lehrstuhl, der 2021 in einem germanistischen Fachbuch sich ungeniert darüber ausließ, daß er sich als „Besatzungsoffizier“ gefühlt habe, der den Einheimischen die „Re-Education“ beibrachte. Natürlich ist er sich gar nicht bewußt, was die Wortwahl über die eigene entfremdete und servile Konditionierung aussagt.
Der Umgang des Westens mit dem Osten hat viel mit Kompensation, Verdrängung, Projektion zu tun. Karl Heinz Bohrer, den Oschmann erwähnt, polemisierte nicht nur gegen das „Kulturschutzgebiet DDR“, er bedachte auch die Welt der Westdeutschen mit giftigem Hohn, ohne freilich zu den historisch-politischen Grundlagen der Kulturschutzzone West vorzudringen. Der Mauerfall sorgte auch dort für Verunsicherung und ließ erahnen, daß die Eigenarten der alten Bundesrepublik künftigen Erfordernissen nicht genügen würden. In der Erniedrigung des Ostens sucht der Westen die Bestätigung und Befestigung seines brüchig gewordenen Selbst.
Schade nur, daß der Autor die AfD-Schelte und die Extremismus-Keule, die im West-Diskurs zur Entmündigung des Ostens dienen, übernommen hat. In der Summe ist das Buch unterhaltsam, lesens- und bedenkenswert.
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Ullstein Verlag, Berlin 2023, gebunden, 224 Seiten, 19,99 Euro