© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

Unschärfe und starke Effekte
Das menschliche Gehirn zeigt den Neurowissenschaftlern immer wieder ihre Grenzen auf
Klaus Rinck

Mit ihrem Human Brain Project (HBP) wollte die EU-Kommission 2013 binnen zehn Jahren Europa zur „Wissenssupermacht“ machen. Vom 28. bis 31. März fand nun in Marseille mit Gästen aus Japan, Kanada und den USA der Abschlußgipfel statt. Im September läuft dieses mit 1,19 Milliarden Euro – davon 400 Milliarden Euro EU-Mittel – geförderte und anfangs hymnisch gefeierte „Apollo-Projekt des Geistes“ endgültig aus. Doch an keinem der beteiligten 131 Forschungsinstitute hängt man noch der Vision des Projektgründers, des israelischen Neurowissenschaftler Henry Markram, nach, das menschliche Gehirn mit Hilfe computerbasierter Modelle „nachzubauen“ , um so ohne Tierversuche seine Funktionsweise besser zu verstehen und die Diagnose von Alzheimer, Autismus oder Parkinson präzisieren zu können.

Dieses Versprechen galt wegen der Komplexität des Menschengehirns von Anfang an als unseriös, und schon 2015 führte die von 700 Neurowissenschaftlern öffentlich vorgetragene Kritik dazu, daß Markram – seit 2002 Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (ETHL) – „entmachtet“ und zum Leiter eines der zwölf neu gebildeten Teilbereiche des Unternehmens „degradiert“ wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er gerade einmal die erfolgreiche Computersimulation von einem Sandkorngroßen Segment des Rattenhirns mit seinen 30.000 Nervenzellen präsentiert.

Sensationen wurden im grauen Forschungsalltag in Luft aufgelöst

Ernüchtert durch geplatzte Blütenträume konzentriert sich das HBP seitdem darauf, wenigstens ein umfassendes Datenfundament zur Entwicklung künstlicher neuronaler Netzwerke des Gehirns sowie für KI-basierte Analysemethoden zu erstellen. Doch nicht nur auf der Hochebene dieses internationalen Großforschungsprojekts sind die mit Allmachtsphantasien ins 21. Jahrhundert gestarteten Neurowissenschaften immer wieder schnell an ihre Grenzen gestoßen. Das zeigt sich etwa für den vergleichsweise überschaubaren Bereich der Versuche, mittels Magnetresonanztomographie (MRT) Zusammenhänge zwischen Hirnstruktur und Verhalten aufzuspüren. Auch hier wurden große Erwartungen geweckt, die sich anfangs sogar durch scheinbar beeindruckende Ergebnisse erfüllten.

So verkündeten britische Forscher 2011, politisch konservativ orientierte Menschen hätten mehr graue, mit Angstgefühlen in Verbindung gebrachte Masse in der Amygdala. Während politisch liberal eingestellte Probanden einen stärker ausgeprägten vorderen Gyrus cinguli aufwiesen, der unter anderem für Aufmerksamkeit wichtig ist. Konservative seien somit eher ängstliche, Liberale neugierig-weltoffene Menschen. Andere Forscher, so erinnert die Wissenschaftsjournalistin Elena Bernard an vergangene euphorische Zeiten in dieser Disziplin, glaubten neuronale Korrelate für Impulsivität, Extraversion, psychische Erkrankungen, sogar einzelne Charakterzüge und kognitive Fähigkeiten gefunden zu haben (Bild der Wissenschaft, 10/22).

Auch solche vermeintlichen Sensationen haben sich bisher regelmäßig im grauen Forschungsalltag in Luft aufgelöst. Denn bei all diesen Studien, so resümiert Bernard, gab es stets ein Problem: Keine einzige ließ sich replizieren. Obwohl die Ursprungsstudien statistisch signifikant waren und teils deutliche Effektgrößen – das Maß für die Korrelation – aufwiesen, konnten sie mit neuen Gruppen von Probanden nicht wiederholt werden.

Was offenkundig daran lag, daß bisher für Hirnscan-Studien zu wenige Teilnehmer rekrutiert wurden. Das fiel zuerst dem Team um Scott Marek (Washington University School of Medicine/WUSM) auf. In St. Louis (Missouri) hatte man mittels MRT einen Blick in den Kopf von 1.100 Schulkindern geworfen, um zu untersuchen, wie kognitive Fähigkeiten in ihren Gehirnen repräsentiert werden. Zwar ließen sich dabei markante Entsprechungen zwischen Gehirnmerkmalen und einer Reihe von demographischen, kognitiven, psychischen und verhaltensbezogenen Merkmalen nachweisen. Nicht jedoch bei einer weiteren Studie mit gleich großer Teilnehmerzahl. Marek analysierte daraufhin Datensätze mit MRT-Daten von 50.000 Teilnehmern. Erst bei Stichproben von mehreren tausend Teilnehmern stieg die Wahrscheinlichkeit, die Ergebnisse in davon unabhängigen Stichproben wiederholen zu können. Allerdings waren die beobachteten Effekte deutlich weniger stark als die zufällig zustande gekommenen Korrelationen in den üblichen kleineren Studien.

Der zu diesem Phänomen konsultierte Psychologe Stephan Schleim (Universität Groningen) sieht eigene Untersuchungen zu den Möglichkeiten und Schwächen von Hirnstudien durch Mareks in der Zeitschrift Nature (603/22; „Can brain scans reveal behaviour?“) veröffentlichte Erfahrungen bestätigt: „Bei kleineren Gruppen von Probanden können zufällige Effekte, die sich aus der Unschärfe der Daten ergeben, zu signifikanten Ergebnissen führen.“ Und da diese Effekte oft größer sind als die tatsächlich vorhandenen, hätten sie eine bessere Chance, publiziert zu werden. Weil die Redaktionen von großen Journalen wie Science und Nature primär an publikumswirksamen Studien interessiert sind, die „starke Effekte“ nachweisen.

Allein ein kurzer Blick in den Kopf kostet pro Proband tausend Dollar

Die eben am besten mit kleinen Probandenzahlen zu erzielen seien. In der Regel hätten Forscher aber gar nicht die Chance, ihre Teilnehmerzahlen zu erhöhen. Koste doch eine einzige Stunde im MRT tausend Dollar. Die meisten Studienleiter könnten sich daher schon aus finanziellen Gründen keine ausreichende Probandenzahl leisten.

Zu wenige, weil zu teure Teilnehmer sind für Simon Eickhoff (Universität Düsseldorf/Forschungszentrum Jülich) aber nicht die einzige Schwäche von Hirnstudien. Auch bei der Auswertung ausreichender Daten könne es große Abweichungen geben. So habe er jüngst mit Tel Aviver Kollegen Daten von 108 Hirnscans, die die Hirnaktivität von Probanden wiedergeben, während sie finanzielle Entscheidungen trafen, an 70 verschiedene Forschungsteams weltweit verschickt und darum gebeten, sie auszuwerten und anhand der Ergebnisse neun Hypothesen zu bestätigen oder zu widerlegen. Obwohl alle Teams mit ihren jeweiligen Standardmethoden analysierten, wichen die Resultate deutlich voneinander ab.

Trotzdem setzt Eickhoff weiter auf Neuro-Forschung anhand von Hirnscans. Zwar hapere es noch in der Grundlagenforschung, „Aber langfristig“, so zitiert Bernard den optimistischen Mediziner, „gehe ich davon aus, daß wir in der Lage sein werden, anhand von Hirnscans psychische und neurologische Erkrankungen frühzeitig zu diagnostizieren und Prognosen über den Verlauf zu stellen.“

Human Brain Project (HBP):

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