© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/23 / 21. April 2023

Weite Teile der Geschichte umschreiben
Vor 40 Jahren überraschte der „Stern“ die Welt mit der Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher: Ein Medienskandal präsentierte sich letztlich als bundesdeutscher Gesellschaftskrimi
Matthias Bäkermann

Die Dramaturgie war genau abgestimmt. Bevor es ins Wochenende ging, gab das Magazin Stern am Freitag, den 22. April 1983 in eigener Sache eine Pressemitteilung heraus, in der es verkündete, im Besitz bisher nicht bekannter handschriftlicher Aufzeichnungen Adolf Hitlers zu sein. Die wolle das Medium am kommenden Montag in einer internationalen Pressekonferenz in den Hamburger Redaktionsräumen präsentieren. Zwischenzeitlich hatte der Verlag der Druckerei das Signal gegeben, die Produktion um mehr als dreißig Prozent zu erhöhen, insgesamt also 2,2 Millionen Hefte parat zu halten. Zudem sollte der Preis dieser in historischer Höchstauflage gedruckten Stern-Nummer 18/83 am 28. April wegen ihres spektakulären Inhalts um fünfzig Pfennig auf 3,50 D-Mark angehoben werden. 

Die einstige Journalistenlegende Heidemann fiel besonders tief

Die überdimensionierten Stern-Titelblätter dieser Ausgabe konnten die 27 Kamerateams und über 200 Journalisten aus aller Welt aber schon vor ihrem Erscheinen in Augenschein nehmen. Hinter dem Podium, wo die stolz strahlende Chefredaktion Platz nahm, prangte unter dem Stern-Logo eine dunkle Kladde mit den Fraktur-Initialen „FH“ und dem signalroten Titel „Hitlers Tagebücher entdeckt“. Großspurig kündigte das Medienhaus an, daß „weite Teile der deutschen Geschichte umgeschrieben werden müßten“. Über diese Nachricht hatten sich zu jenem Zeitpunkt natürlich – wie von der Stern-Redaktion gewünscht und einkalkuliert – schon alle möglichen Journalisten der Konkurrenz und etliche Historiker das Maul zerrissen. Um so überlegener konnte Chefredakteur Peter Koch alle Neidhammel und Bedenkenträger gleich zu Anfang schneidig abkanzeln: „Ich habe mich sehr gewundert über Ferndiagnosen so renommierter Leute wie Professor Jäckel. Wir – hätten wir uns als Journalisten die Arbeit so leicht gemacht, in der Tat, man hätte uns leichtfertigen Umgang mit den Materialien vorwerfen können.“ Der als ausländischer Sachverständiger auf dem Podium zustimmend nickende britische Historiker Hugh Trevor-Roper schüchterte mit all seiner Oxford-Autorität zudem allzu naßforsche Fragesteller ein. Sogar die „Tagesschau“ präsentierte am Abend des 25. April die Sensation schon beinahe überzeugt und nur mit verhaltener Skepsis: „Auch wenn Sachverständige zugeben, daß bei der Menge des vorliegenden Materials eine Fälschung wenig wahrscheinlich sei – Unsicherheit bleibt.“

Die Unsicherheit weilte aber nur wenige Tage. Bereits am 6. Mai meldeten die Ticker das Ergebnis der zuvor vom Stern beauftragten Gutachten des Bundeskriminalamts und der Bundesanstalt für Materialprüfung, die die Hamburger aber vor der Veröffentlichung nicht abwarten wollten: Daß die bei der Bindung verwendeten Materialien ebenso wie im Papier nachgewiesene optische Aufheller frühestens seit den fünfziger Jahren verwendet wurden. Das Kartenhaus brach zusammen. Häme goß nieder. Köpfe der Chefredaktion des Stern rollten. Dessen journalistisches Renommee ist bis heute beschädigt (siehe dazu Seite 17). Und die beiden Hauptakteure? Der Tagebuch-Fälscher Konrad Kujau landete drei Jahre im Knast, der maßgeblich an der Affäre beteiligte Stern-Journalist Gerd Heidemann wurde 1985 vom Hamburger Landgericht zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Obwohl letzterer diese Strafe im offenen Vollzug abbüßen konnte, fiel Heidemann dennoch am tiefsten. Denn während der bereits zuvor mehrfach vorbestrafte Kujau seine zweifelhafte Popularität als Kopist bauernschlau vermarktete, „original Kujau-Fälschungen“ teuer an den Mann brachte, und in Fernsehshows auftrumpfte, war Heidemanns Karriere gänzlich im Eimer, als Reporterlegende vom Stern fristlos gefeuert und finanziell danach völlig ruiniert.

Der heute in Hamburg lebende 91jährige Heidemann ist nicht nur die letzte noch lebende Hauptfigur der Affäre um die gefälschten Hitler-Tagebücher – Stern-Chefredakteur Peter Koch verstarb bereits 1989, Fälscher Kujau im Jahr 2000 und der zuständige Stern-Ressortleiter Thomas Walde zuletzt im August 2022 –, er dürfte auch die umfangreichste Materialsammlung zu diesem Fall besitzen. In mehr als 150 Aktenordnern heftete er alle Unterlagen, Briefwechsel, kleinste Details über diesen wohl größten Medienskandal der Bundesrepublik.

Kujau versuchte, Hitler von Verbrechen reinzuwaschen

Diese sind Teil eines gewaltigen Archivs in einer der Öffentlichkeit verschlossenen großen Kelleretage Hamburgs. Entlang verschachtelter enger Gänge stehen an die 10.000 Aktenordner in raumhohen Regalen, in denen der besessene Sammler alles Mögliche hortet. Zeitschriftenartikel zu historischen Themen aller Epochen, seine vielen Recherchen und Fotos, die die einstige Reporterlegende aufgehoben hat – die Söldner um „Kongo-Müller“ in den sechziger Jahren, den Akkordeon spielenden Diktator Idi Amin in Uganda bis hin zur „Entscheidung in Mogadischu“ 1977, wo Heidemann mittenmang berichtete, stets den damaligen Sonderbeauftragen der Bundesregierung Hans-Jürgen Wischnewski („Ben-Wisch“) im Kamerafokus, der schwitzend im Kurzarmhemd zu vermitteln versuchte. Nur mit zaghafter Bescheidenheit präsentiert der freundliche alte Herr die Unterlagen seiner beruflichen Sternstunde – als der später dafür mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Kriegsreporter bei einer wagemutigen Geiselbefreiung 1971 im jordanischen Amman seinem Berufskollegen Randy Braumann das Leben rettete. Wer kann so etwas schon vorweisen!

Ein sehr großer Teil des Heidemann-Archivs deutet bereits an, warum ausgerechnet er mit „dieser ganz schön braunen Soße“ (Zitat des Schauspielers Ulrich Mühe zu den Hitler-Tagebüchern in der Filmkomödie „Schtonk“) damals hervortrat. Neben dem journalistischen Interesse übten Personen aus dem NS-Regime eine besondere Faszination auf den einstigen Hitlerjungen aus. Hitler-„Leibfotograf“ Heinrich Hoffmann überließ ihm eine Fotosammlung des „Führers“, er hatte persönliche Beziehungen zu Angehörigen der Familien Heydrich und Göring; mit dessen Tochter Edda verband ihn sogar eine fünfjährige Partnerschaft. Er konnte zudem Kontakte zu hohen SS-Generalen wie Wilhelm Mohnke oder Karl Wolff vorweisen. Diese vertrauten dem Journalisten sogar soweit, daß sie ihm brisante Dokumente beträchtlichen historischen Wertes zuspielten, etwa die Abhörprotokolle, die die SS ab 1943 von Mussolini aufzeichnete, oder geheime Akten aus dem Führungsstab der Luftwaffe, der bereits 1941 eine „Orientierungsmappe Indien und Afghanistan“ anfertigen ließ.  

Über diverse Militaria-Sammler und NS-Nostalgiker ergab sich dann auch der unheilvolle Kontakt Heidemanns zu Konrad Kujau. Dieser versorgte unter dem falschen Namen Konrad Fischer seine Kunden mit von ihm gefälschtem NS-Nippes und prominenten Handschriften. Dem schwäbischen Fabrikanten Fritz Stiefel drehte er den bereits 1975 angefertigten ersten Band der Hitler-Tagebücher an. Dieser bestand aus einer in der DDR erworbenen DIN-A4-Kladde mit rauhem Papier. „Ich werde ab sofort meine politischen Unternehmungen und Gedanken in Notizen festhalten, um sie wie jeder Politiker für die Nachwelt zu erhalten“, erlog Kujau Hitlers ersten Eintrag von 1932. Neben unterschiedlichen Quellen zu historischen Eckdaten aus zweiter Hand hangelte sich Kujau im wesentlichen an der 1962 von dem Historiker Max Domarus publizierten Chronik „Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen“ entlang. Das begründet auch Hitlers „Entschluß“, ausgerechnet im Krisenjahr 1932 sein diarisches Projekt zu starten. 

Alle journalistischen Regeln wurden über Bord geworfen

Und den Rest erfand Kujau einfach dazu, immer im Hinterkopf, den „Führer“ misamt von Intimitäten zu Eva Braun und verschiedenen Kränkeleien menschlich darzustellen und ihn letztlich sogar von Verbrechen zu entlasten, besonderes was die „Judenfrage“ angeht. „Es muß doch im Osten einen Flecken geben, wo man diese Juden unterbringen kann“, skribierte Kujau im Namen Hitlers, um damit via Tagebuch en passant die Schuld am planmäßigen Judenmord vollends auf den „hinterhältigen Kleintierzüchter mit seinem Drang zur Macht“ (gemeint war Himmler) abzuwälzen. 

Damit schrieb Kujau nicht wenigen Zeitgenossen nach dem Munde, die schon immer gern NS-Verbrechen mit dem Seufzer „Wenn das der Führer wüßte …“ zu relativieren meinten. Da die „originalen“ sechzig Kladden immer noch beim Stern im hauseigenen Archiv ruhen und bisher nicht ausgewertet werden konnten, hat der NDR im Februar die aus anderen Quellen zusammengetragenen Tagebücher mittels eines Texterkennungsprogramms aus der von Kujau gefälschten und nur schwer leserlichen Schreibschrift Hitlers transkribiert und damit eine komplette Textanalyse möglich gemacht. Bei den nun umfassend zutage kommenden Relativierungen Kujaus setzt auch die Kritik der Historiker Heike Görtemaker und Hajo Funke an, die in den „Hitler-Tagebüchern“ nicht nur einen Medienskandal erkennen. Sie analysieren die damalige Durchschlagskraft dieses Phänomens gerade bei den um 1980 die Gesellschaft noch stark prägenden Zeitzeugengenerationen und ihrer immer noch heimlich herrschenden Sehnsucht, die NS-Zeit „reinzuwaschen“. Genau dessen war sich Kujau bewußt.

Diese Haltung beeinflußte auch in der ansonsten linksliberalen Stern-Redaktion das Geschehen und ließ alle journalistischen Regeln in den Hintergrund treten oder gleich ganz über Bord werfen. Niemand hinterfragte die geheimgehaltene Quelle, bereits ein Geraune über die Herkunft von jenseits des Eisernen Vorhangs genügte, um über neun Millionen D-Mark für die Beschaffung der Sensationsdokumente lockerzumachen. Punktuelle Recherchen überschnitten sich dabei mit plausiblen Angaben, wie etwa dem tatsächlich stattgefundenen Flugzeugabsturz am 21. April 1945 mit dem Flugzeugführer Friedrich Anton Gundelfinger im sächsischen Börnersdorf, und ließen peu à peu alle Bedenken schwinden. In den drei Jahren zwischen erster Kontaktaufnahme bis zur Veröffentlichung wurden verschiedene Expertisen eingeholt und immer mehr Personen in Redaktion und Verlag eingeweiht, bis hin zu den Vorständen von Gruner + Jahr und Bertelsmann, Manfred Fischer und Reinhard Mohn. Letzterer war fest überzeugt, daß man damit eine „Sensation des Jahrhunderts“ offenbare. Auch der langjährige Stern-Herausgeber Henri Nannen zeigte sich begeistert. Laut Heidemann stammte von ihm der Vorschlag, Kujaus Erstling aus dem Jahr 1975 mit der skurrilen Initialfolge „FH“ in der Schriftart Textura für die Titelgestaltung des Sensations-Stern Ende April 1983 zu benutzen, die anderen Kladden waren meist nur mit versiegelten Schnüren ausgestattet. Nach Platzen der Fälscher-Bombe war Nannen dann jedoch einer der härtesten Kritiker Heidemanns, aber mit plötzlichen und ebenso geschmeidigen Kurswechseln kannte sich der einstige Kriegsberichterstatter einer SS-Propagandakompanie und nachmalige Stern-Gründer schließlich aus (JF 22/22). 

Wie später offengelegte interne Schriftwechsel in der Stern-Redaktion zeigten, wurde dort bald jede Distanz aufgegeben und immer vertrauter vom „Führer“ gesprochen. Um so gehässiger wurden Historiker mit grundsätzlichen Bedenken an der Echtheit der Tagebücher wie Werner Maser oder Andreas Hillgruber beschimpft. Hillgruber mußte sich von dem Magazin wegen seiner Einwände sogar als „rechten Archiv-Ayatollah“ denunzieren lassen. Als der Regisseur Helmut Dietl 1992 seine kongeniale Persiflage des Skandals mit Götz George und Harald Juhnke verfilmte, konnte er also auf einen reichen Schatz von ganz realen Irrheiten zurückgreifen. Und im Abspann setzte er eine leibhaftige Hauptperson, nämlich Gerd Heidemann, als Kapitän in Szene, der mit der Göring-Yacht auf der Elbe zu fliehen versucht. Allein diese Geschichte wurde dann tatsächlich umgeschrieben: In der Endfassung von „Schtonk“ ließ Dietl die Heidemann-Sequenz doch noch herausschneiden und durch den schnauzbärtigen George als Hermann Willié ersetzen.