© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/23 / 12. Mai 2023

Anhaltende Inflationsunterschiede zwischen den 20 Euroländern
Kein optimaler Währungsraum
Dirk Meyer

Preisstabilität ist das „vorrangige Ziel“ der EZB – so steht es in Artikel 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Doch mit durchschnittlich 7,0 Prozent Inflation (im April) wird dieses Ziel in der Eurozone seit zwei Jahren verfehlt. Neben dem dramatischen Kaufkraftverlust gibt es ein zweites Problem: die unterschiedlichen Teuerungsraten in den 20 Euroländern. Die Spreizung der Inflationsraten liegt derzeit bei 12,3 Prozentpunkten. Das untere Ende bilden Luxemburg (2,7 Prozent), Belgien (3,3) und Spanien/Zypern (3,8). Um den Durchschnitt herum liegen Portugal (6,9), Deutschland (7,6) und Italien (8,8). Zweistellige Werte finden sich in Estland (13,2), Litauen (13,3), der Slowakei (14,0) und Lettland (15,0) – und das führt zu Konflikten im EZB-Rat.

Vorige Woche wurde der EZB-Leitzins um 0,25 auf 3,75 Prozent angehoben. Zudem werden fällige Anleihen des Kaufprogramms APP ab Juli nicht mehr ersetzt, was die EZB-Bilanzsumme monatlich um 25 Milliarden Euro verringert. Bei einem geldpolitisch gehaltenen Wertpapierbestand von insgesamt 4.896 Milliarden Euro (April 2023) – entsprechend 63 Prozent der EZB-Bilanzsumme – wäre bei diesem Tempo die letzte gekaufte Anleihe Anfang 2043 aus der Bilanz getilgt. Das Handeln der EZB und Aussagen von Präsidentin Christine Lagarde sprechen dafür, daß die Anleihen bis zur Endfälligkeit gehalten werden, was nach dem PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 ein Indiz für monetäre Staatsfinanzierung darstellen würde. Diese ist gemäß Artikel 123 AEUV verboten. Wegen der Inflationsspreizung waren einzelne EZB-Mitglieder für eine Zinserhöhung um 0,5 Prozentpunkte, auch die Reduktion der Anleihebestände war umstritten. Hochinflationäre und stabilitätsorientierte Euroländer wollen geldpolitisch eher bremsen, diejenigen mit niedrigerer Inflation nicht. Deren Konjunktur würde durch hohe Zinsen gefährdet.

Hinzu kommt die hohe Verschuldung einiger Euroländer, deren Haushalte könnten durch Neukredit und steigende Zinslasten mittelfristig kollabieren. Unterschiedliche Produktionsstrukturen und Konsumgewohnheiten, spezielle Abhängigkeiten der baltischen Staaten und die Wirkungen von Lieferkettenproblemen und Fachkräftemangel sowie nationale Maßnahmen (Energiesubventionen, Steuerentlastungen, Heiz­auflagen, 49-Euro-Ticket) sind entscheidende Ursachen der Inflationsspreizung. Die Eurozone ist zu verschieden, um mit der Einheitswährung Euro einen optimalen Währungsraum abzudecken – seit ihrer Gründung keine neue Erkenntnis. Notwendig wäre daher eine koordinierte Fiskalpolitik in der EU. Selbst für Deutschland weist das Statistische Bundesamt für 2022 zwischen den Bundesländern eine Inflationsdifferenz von gut zwei Prozentpunkten aus – mit Hessen und Niedersachsen (6,8 Prozent) am unteren und Bremen (8,9) am oberen Ende.

Doch Deutschland ist verfassungsgemäß eine Fiskal- und Transferunion mit großen Finanzausgleichsmechanismen (Steuersystem, Länderfinanzausgleich). Die EU ist krisenbedingt auf bestem Wege dorthin: Gemeinschaftsschulden über den „Wiederaufbaufonds“ NextGenerationEU (820 Milliarden Euro) und die Kurzarbeiterhilfe SURE (100 Milliarden Euro) sowie ein diskutierter EU-weiter Mindestlohn. Doch das war nicht der Plan von Maastricht 1992.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.