© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/23 / 02. Juni 2023

Und schon wieder gewinnt er
Türkei: Nach der Stichwahl steht es fest, Erdoğan wird weiterhin am Bosporus regieren. Das liegt auch an der Opposition
Marc Zoellner

Dieser Sonntag war für Recep Tayyip Erdoğan ein willkommener Anlaß, die Gläser klingen zu lassen: Mit gut 52 Prozent aller abgegebenen Stimmen hat der 69jährige die Präsidentschaftswahl in der Türkei zwar nur knapp für sich entscheiden können. Doch nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale stand fest, daß der türkische Präsident noch immer fest im Sattel sitzt und sich auf eine dritte Amtszeit freuen darf. „Niemand hat heute verloren“, verkündete der sichtlich gutgelaunte Wahlsieger noch in derselben Nacht. „Jeder einzelne unserer 85 Millionen Bürger hat gewonnen!“

Sein letztendlicher Erfolg stand noch bis zum Schluß auf wackligen Füßen: Immerhin sahen bereits zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 14. Mai die wenigsten Umfragen den Vorsitzenden der konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) vor seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, dem Parteichef der konkurrierenden, sozialdemokratisch ausgerichteten Republikanischen Volkspartei (CHP). Viele westliche Medien hefteten sich bereits an Kılıçdaroğlu als mutmaßlichen Hoffnungsträger eines „Wendepunkts der türkischen Demokratie“ in jener „historischen Wahl“, wie das Auslandsressort der Deutschen Welle (DW) noch am Wahltag schrieb und auf mehreren seiner Plattformen titeln ließ: „Das Ende für Erdoğan?“ Nur fünf Tage zuvor hatte bereits das renommierte US-Magazin

Foreign Policy eine detaillierte Analyse zur Wahl mit „Ja, Erdoğans Herrschaft könnte tatsächlich dieses Wochenende enden!“ betitelt.

Erdogan sprach den Deutschtürken seinen Dank aus

„Aus Sicht des Regierungsbündnisses könnte die innenpolitische Situation der Türkei für die Wahlen am 14. Mai 2023 kaum ungünstiger sein“, argumentierte das zur DW gehörende Internetportal Qantara, das schwerpunktmäßig über die islamische Welt berichtet, und führte eine ganze Reihe von Fakten an, die gegen eine Stimmabgabe für den amtierenden Präsidenten der Türkei sprachen, unter anderem die derzeit grassierende Inflation von über 50 Prozent in der kleinasiatischen Republik, den Währungsverfall der türkischen Lira sowie eine Jugendarbeitslosigkeit von über 19 Prozent. 

Trotz alledem stimmte die türkische Gemeinde in Deutschland mit 65 Prozent für den Amtsinhaber. „Liebe Landsleute im Ausland, Sie haben die Macht der türkischen Demokratie gestärkt und uns alle als Nation stolz gemacht“, bedankte sich Erdoğan nur vier Tage später auf Twitter mit besonderem Blick nach Deutschland bei seinen Wählern. „Jeder von Ihnen hat seinen Namen bereits mit goldenen Buchstaben in unsere politische Geschichte geschrieben.“ Der CHP warf Erdoğan gleichzeitig vor, das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien, bei dem Anfang Februar fast 60.000 Menschen beidseits der Grenze ums Leben kamen, für „Touristenfotos“ und eine „Show“ ausgenutzt zu haben, „ohne sich um den Schmerz der Nation zu scheren“.

Tatsächlich hatte sich Kılıçdaroğlu während seines Besuchs der Erdbebengebiete Anfang März intensiv von den Medien porträtieren lassen, unter anderem mit einer Übernachtung in einem Zelt inmitten von Ruinen zerstörter Häuser.

Das Kalkül des CHP-Führers, an die soziale Ader der türkischen Wähler zu apellieren, war im ersten Wahlgang indessen nicht aufgegangen: Kılıçdaroğlu fehlten am Ende der Auszählung 5,1 Prozent zur Amtseinführung, Recep Erdoğan hingegen nur 0,5 Prozent. Zur Stichwahl vom vergangenen Sonntag waren hingegen beide Kandidaten genötigt, neue politische Bündnisse zu schmieden. Eine Schlüsselposition als potentiellem Königsmacher fiel hierbei Sinan Oğan zu, dem mit 5,2 Prozent aller Stimmen Drittplazierten des ersten Wahlgangs.

Oğan, ehemaliger Abgeordneter im türkischen Parlament für die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), war im März von der rechtspopulistischen Ahnenallianz zum Kandidaten gekürt worden und führte einen straff organisierten Wahlkampf mit dem Schwerpunktthema der Rückführung der knapp 3,5 Millionen in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge. Nach der Auszählung wechselte Oğan jedoch die Lager und rief seine Anhänger zur Wahl Erdoğans auf – ein Schritt, der zum Unmut in der Ahnenallianz führte. Deren einflußreichstes Mitglied, die einwanderungskritische Partei des Sieges (ZP), befürwortet immerhin einen Machtwechsel in der Türkei, am besten unter dem CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu. Noch Ende vergangener Woche hatte sich ZP-Chef Ümit Özdağ mit seinem CHP-Amtskollegen zur Lagesondierung getroffen und die Wahl Kılıçdaroğlus empfohlen.

Die Flüchtlingspolitik war nicht wahlentscheidend

„Als Partei des Sieges haben wir beschlossen, Kılıçdaroğlu zu unterstützen“, verkündete Özdağ der Presse im Anschluß. „Wir haben mit ihm einen Konsens erzielt.“ Einigkeit bestehe laut Aussage Özdağs insbesondere in der Kurdenfrage sowie darüber, daß die neunzehn im Jahr 2019 abgesetzten Bürgermeister, die mehrheitlich der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) angehörten, nicht wieder im Amt zugelassen würden. Und auch zur Flüchtlingsfrage bestätigte Kılıçdaroğlu die Übernahme der zentralen ZP-Position. „Ich kündige hier an: Ich werde alle Flüchtlinge nach Hause schicken, sobald ich zum Präsidenten gewählt bin“, so der CHP-Vorsitzende, der für diesen Schritt einen Zeitraum von zwei Jahren definierte. Erdoğan, so sein sozialdemokratischer Herausforderer, habe „absichtlich zehn Millionen Flüchtlinge in die Türkei gelassen (und) die türkische Staatsbürgerschaft zum Verkauf angeboten, um importierte Stimmen zu bekommen“.

Daß auch dieser Rundumschlag sein Ziel verfehlen würde, war absehbar: Bereits Anfang April hatte eine Umfrage des türkischen Demoskopieinstituts Metropoll ergeben, daß lediglich zwei Prozent aller Türken die Flüchtlingsfrage als dringlichstes Problem ihres Lands ansahen. Für mehr als 56 Prozent der Befragten besaß die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei Priorität bei der Stimmabgabe zur Präsidentschaftswahl – und gerade einmal 7,6 Prozent erklärten, eine „erfolglose Regierungsarbeit“ zum Anlaß zu nehmen, in dieser „historischen Wahl“ (DW) an die Urne zu treten. Mit seinem Fokus auf wirtschaftspolitische Aspekte setzte statt dessen Erdoğan auf das richtige Rennpferd. „Wir werden eine Finanzverwaltung von international hoher Reputation begründen“, wiederholte der türkische Präsident auf seiner Siegesfeier von Sonntagnacht. Dem zahlreichen Publikum versprach er eine „investitions- und beschäftigungsorientierte Produktionswirtschaft“, den fortgesetzten Kampf gegen „inflationsbedingte Preissteigerungen“ sowie den Ausbau des Industrie- und Energiesektors „zum Motor einer neuen Wirtschaftsinitiative, die alle überraschen wird“. Erdoğan versprach weiterhin, jedes Jahr zehntausend gut ausgebildete junge Türken aus dem Ausland abzuwerben und deren Eingliederung in die Türkei bürokratisch zu erleichtern.

Die vergangene Stichwahl war seit seiner Wahl zum Istanbuler Bürgermeister 1994 bereits Erdoğans 17. in Folge gewonnene Wahl. Die neue Amtszeit, so das Staatsoberhaupt, solle definitiv seine letzte werden. Bereits im Wahlkampf waren Gerüchte über seinen Gesundheitszustand sowie einen angeblichen Herzinfarkt aufgekommen, als Erdoğan ein Interview mitten im Satz abbrechen mußte. Unbeantwortet bleibt diesbezüglich insbesondere die Frage nach einem Nachfolger des sichtlich gealterten Politikers. Erdoğan selbst hält sich in dieser Frage bis heute bedeckt.

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