Ausgehend vom akademischen Überbau, hat sich das Modewort „Narrativ“ im deutschen Feuilleton pandemisch ausgebreitet. Es sei daher höchste Zeit, mahnt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, diesen „unscharfen Begriff“ zu klären (Merkur, 6/2023). Im ersten Anlauf könne man Narrativ vielleicht einfach durch „Geschichte“ oder „Erzählung“ ersetzen. Unter diesen sprachlich vertrauten Begriffen stellen sich Menschen zentrale, sinnstiftende Ordnungsmuster vor, die sie ihr Leben als schlüssiges Ganzes erfahren lassen. Ohne solche Ordnung würden sie sich im Erfahrungschaos bewegen und könnten psychisch nicht überleben. Beide Formen böten jedoch Ordnungsmuster für beliebig viele Individuen. Anders verhalte es sich mit „Narrativen“, die Geschichten nur für abgrenzbare Kollektive verankern und ihnen exklusive kulturelle Orientierung vermitteln. Als „Steuerungsmomente“ seien sie wirkungsvoll und würden auch in fragilen „spätkapitalistischen Gesellschaften“ dringend gebraucht, weil jedes Gruppenmitglied sie wie natürlich „verkörpert“ in sich trage und nicht konstruiere. Was zunächst wie ein Loblied auf jene ethnisch-, historisch-kulturellen „Voraussetzungen“ klingt, die nach Ernst-Wolfgang Böckenförde den Zusammenhalt des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates verbürgen, mündet bei der für Masseneinwanderung werbenden Assmann doch wieder in Multikulti-Agitation: Nicht solche „toxischen“, hermetisch geschlossenen, sondern nur „offene Narrative“ ließen Raum für Austausch und gegenseitiges Interesse. Mit ihnen werde „die Grenze zwischen Alteingesessenen und Dazugekommenen fließend“.