Querfront-Phantasien. Der von links nach rechts gewanderte Publizist Manfred Kleine-Hartlage, Jahrgang 1966, verficht in seinem Essay „Querfront“ die jenseits der etablierten Bewußtseinsindustrie schon lange nicht mehr als abwegig geltende These vom absehbaren „Systemzerfall“ westlicher Demokratien. Diese würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an selbst verursachten Problemen wie der Masseneinwanderung oder der wahnhaften Politik der „Klimarettung“ scheitern, weil sich ihre lernfähige, für Kurskorrekturen offene pluralistische Kultur nach dem Ende des Kalten Krieges aufgelöst habe. An deren Stelle sei, besonders in Deutschland, ein von der global herrschenden Klasse abhängiges semitotalitäres Machtkartell der Altparteien entstanden, das „in zunehmenden Maße gegen die Interessen einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung arbeitet“. Wenn auch nicht originell, da schon von zahlreichen globalisierungskritischen Theoretikern der „Postdemokratie“ seit der Jahrtausendwende vorgetragen, so ist diese Diagnose des nicht erst seit den Corona-Restriktionen fortschreitenden Abbaus bürgerlicher Freiheiten doch im Kern zutreffend. Hingegen nimmt sich die „Querfront“-Therapie des Autors wie vom Quacksalber verordnet aus. Demnach wäre der Weg hin zur Bildung einer fundamentalen Systemopposition frei, wenn Linke wie Rechte nur begreifen würden, daß das herrschende Kartell auch für ihre flügellosen Alternativversionen, „konservativ-liberal“ hier, kapitalismuskompatibel dort, nicht die geringste Verwendung habe. (dg)
Manfred Kleine-Hartlage: Querfront! Die letzte Chance der deutschen Demokratie. Verlag der 300, Berlin 2023, broschiert, 223 Seiten, 12,90 Euro
Verortungen. Verschiedene Definitionen des Ostens sind Deutschen nicht fremd. Wo Fußballfans heute auf den Rängen „Ost-, Ost-, Ostdeutschland“ skandieren, hatten noch vor zwei Generationen die meisten eine mitteldeutsche Selbstwahrnehmung. In Polen ist diese Verortung nicht nur geographisch heterogen – frühere „jagiellionische“ Einflußräume in Galizien oder Podolien sind in Polen spätestens mit dem Ukraine-Krieg wieder verstärkt ins Bewußtsein gerückt –, sondern ist auch eine Frage des Bewußtseins. Dieses Phänomen erschließt das aktuelle Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt ganz ausgezeichnet. Seine Beiträger stellen nicht nur die historischen und kulturellen Beziehungen in die osteuropäischen Weiten dar, sondern versuchen auch zu ergründen, warum die „russische Seele“ dem ideellen Kosmos der Polen heute weiter entrückt ist als die Sicherheitsarchitektur oder das Werte- (bzw. Unwertesystem) des „Westens“. (bä)
Deutsches Polen-Institut: Jahrbuch Polen 2023. Osten. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2023, broschiert, 182 Seiten, 19,90 Euro