© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Der Tod Martin Walsers hat die erwartbare Flut von Nachrufen ausgelöst. Doch waren die nicht ganz so hymnisch wie im Fall anderer berühmter Literaten der Bonner Republik, einst Heinrich Böll, dann Günter Grass und jüngst Hans Magnus Enzensberger. Die kritischen Untertöne erklärten sich regelmäßig durch Walsers Paulskirchenrede von 1998, in der er vorsichtig – aber nicht vorsichtig genug – auf die Negativfolgen permanenter deutscher Vergangenheitsbewältigung hingewiesen hatte. Trotz seines späteren Rückziehers und demonstrativer Zerknirschung, gespeist aus der Hoffnung, die Sache so aus der Welt zu schaffen, wurde ihm der Tabubruch nie verziehen. Aufschlußreich – und für die ideologischen Kräfteverhältnisse bezeichnend – ist, daß niemand andere und bessere Gründe nennt, um Vorbehalte gegen die Person Walsers anzumelden. Gehörte er doch in der Nachkriegszeit zur Schar der fellow traveller des kommunistischen Lagers, war Sympathisant der DKP und DDR-Versteher, Kapitalismuskritiker (aber am eigenen materiellen Vorteil durchaus interessiert) und wortgewaltiger Ankläger der refaschisierten BRD. Das meiste davon hatte er mit den eingangs erwähnten Böll/ Grass /Enzensberger gemeinsam, die allerdings anders als Walser sehr genau wußten, daß sich die erfolgreiche Bewirtschaftung von Moral auf den Bereich deutscher Schuld zu beschränken hat.

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Apropos Bürgerrat: Im Geschichtsunterricht der 7. Klasse brachte mir Dr. Kramer bei, daß die Idee der Athener, künftig das Los in politischen Fragen entscheiden zu lassen, der Anfang vom Ende der Demokratie war.

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Der Stern hat unlängst wieder ein Interview mit der Schriftstellerin Juli Zeh gebracht. Darin geht es aber kaum um Literatur, fast nur um Politik. Was nicht weiter verwundert, denn Frau Zeh äußert sich regelmäßig auch und gerade politisch. Hier hat ein gewisses Aufsehen erregt, daß sie ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärte, mit Björn Höcke aufs Podium zu gehen und daß sie die Konjunktur des Populismus nicht ganz unverständlich findet. Was ihr prompt den Verdacht eintrug, mit derlei Äußerungen objektiv der AfD zu nutzen. Aber sei dem, wie dem sei. Was in dem Gespräch bedauerlicherweise fehlt, ist der Rückbezug auf ein Interview, das der Stern vor fünfeinhalb Jahren mit Frau Zeh geführt hat, in dem es auch um die AfD ging, das allerdings in deutlich anderer Tonlage. Denn da hielt sie die Alternative für Deutschland ohne Wenn und Aber für den Feind des „politischen Fortschritts“, empörte sich, daß selbst in ihrer Bubble Leute Ausländer „doof“ fanden, meinte, daß ihr Parteigenosse Martin Schulz ein großartiger Kanzler gewesen wäre und man nun, angesichts des drohenden Faschismus, über rabiatere Formen des politischen Kampfes nachdenken müsse: „Ich bin jetzt nicht direkt für den Molotowcocktail. Aber vielleicht kommt es zu einer rhetorischen Radikalisierung. Dann könnte ich nur noch sagen: ‘Ihr Neurechten seid blöde Schweine.’ Ich habe langsam keine Lust mehr, ständig die peinlichen Sorgen von Leuten ernst zu nehmen, die nicht kapieren, wie massiv wir alle von Europa und der Globalisierung profitieren.“ Es wäre doch interessant gewesen, zu erfahren, ob man es hier mit einem Sinneswandel zu tun hat oder der Eindruck täuscht und jemand ganz einfach heute so und morgen so daherplaudert.

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Robert Habecks Sorge um eine funktionstüchtige konservative Partei hat etwas Rührendes. Aber vielleicht sollte er sich zuerst um eine funktionstüchtige grüne Partei kümmern.

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„Wie auch immer die Beziehungen zwischen Amerika und Rußland sich gestalten mögen, Europa wird sich nicht dank masochistischer Wehrlosigkeit, sondern nur dann aus deren Konflikten heraushalten können, wenn es selbst eine Supermacht geworden sein wird, so abschreckend wie jene Riesenstaaten. Das ist unsäglich traurig, jedoch unvermeidlich, weil diese Welt noch während mehrerer Jahrzehnte der Gefahr und der Lockung des Selbstmordes ausgesetzt bleiben wird. Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu bewahren.“ (Manès Sperber in seiner Dankesrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 1983)

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Peter Sturm hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Ausgabe vom 29. Juli) die drakonische Bestrafung des Besitzes von Rauschgift in Singapur kritisiert und dabei auf eine ebenso verbreitete wie absurde Anschauung abgehoben: „Moralisch begibt sich jeder Staat, der die Todesstrafe praktiziert, auf das Niveau derer, die er vom Leben zum Tode befördert.“ Wenn das stimmen sollte, müßten auch Diebstahl und Geldstrafe, weil man in beiden Fällen Eigentum entzieht, Geiselnahme und Gefängnishaft, weil in beiden Fällen jemandem die Freiheit genommen wird, moralisch auf derselben Stufe stehen. Eine Auffassung, die wohl auch Sturm nicht vertreten würde, wenngleich ihm die Fähigkeit mangelt, zwischen potestas ordinata – „geordneter Macht“ – und potestas inordinata – „aufständischer Macht“ – zu differenzieren.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 18. August in der JF-Ausgabe 34/23.