Das Loblied „Und in Jene lebt sich’s bene“ wird bereits seit 1841 auf die thüringische Stadt gesungen. Es ist bis heute bei Verbindungsstudenten beliebt und aus dem Allgemeinen Deutschen Commersbuch nicht wegzudenken. Noch immer halten Fernzüge am Bahnhof Jena-Paradies, direkt neben der Sachsenburg, dem Corpshaus der Jenenser Sachsen.
Die Nationalsozialisten hatten Saxonias Auflösung erzwungen, die DDR-Kommunisten setzten die Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit ab 1949 nahtlos fort. Mit Beginn der siebziger Jahre verschärfte der Staatssicherheitsdienst die Repression in Jena, wegen der Universität, des Forschungsbetriebs Carl Zeiss und der nahen Kulturstadt Weimar ein Magnet für Andersdenkende. Zu ihnen zählte auch Matthias Domaschk, geboren 1957, der von einem selbstbestimmten Leben im Arbeiter- und Bauernparadies träumte. Er protestierte 1976 gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, organisierte Hilfsaktionen für inhaftierte Oppositionelle, beschäftigte sich mit dem Fall Oskar Brüsewitz, jenem Pfarrer, der sich im August 1976 aus Protest gegen die SED-Willkür und den Opportunismus seiner Glaubensbrüder in der Amtskirchenführung in Zeitz öffentlich selbst verbrannt hatte. Parka und Jeans, Jimi-Hendrix-T-Shirt, Mitarbeit in der evangelischen Jungen Gemeinde in Jena – die Stasi hatte Domaschk bald auf dem Schirm. Verhaftungen, Wohnungsdurchsuchungen, Schulverweis waren die Folge der „operativen Bearbeitung“. Ohne sozialistischen Klassenstandpunkt lief nichts in der DDR, die jugendlichen Dissidenten in Jena spürten dies fast täglich. Daß die meisten von ihnen nicht für den Westen schwärmten, vielmehr den Sozialismus als bessere Alternative sahen, interessierte die „Sicherheitsorgane“ allerdings nicht. Domaschk darf nicht studieren, fristet schließlich als Maschinist für Lüftungsanlagen in einem Heizungskeller sein tristes berufliches Dasein. Gleichwohl, einen Ausreiseantrag zu stellen hat er sich selbst verboten.
„Jena ist gegenwärtig das Zentrum der Opposition“
Kein unübliches Schicksal eines kritischen Jugendlichen in der DDR. Doch war im Fall Domaschk manches anders. Denn die allmächtige Stasi stieß in Jena an ihre Grenzen. Je brutaler deren Spitzel die kritischen Geister drangsalierte, in ihre Folterkeller steckte oder zur Ausreise in den Westen zwang, desto stärker entwickelte sich der Widerstand gegen den „real existierenden Sozialismus“. „Jena ist gegenwärtig das Zentrum der Opposition in der DDR“, heißt es noch 1983 in einem internen Stasi-Bericht.
Darunter war Domaschk, der eifrig auch Kontakte zu Dissidenten in Osteuropa knüpfte, nach Polen und der Tschechoslowakei. Da wurde es der Stasi zuviel. Daß er als Soldat bei der Nationalen Volksarmee diente, schützte ihn nicht. Am 10. April 1981 steigt Domaschk mit einem Freund in einen Zug nach Ost-Berlin, um an einer Geburtstagsfeier teilzunehmen. Doch in der „Hauptstadt der DDR“ kommen die beiden nie an. Dort läßt sich Staats- und Parteichef Erich Honecker auf dem SED-Parteitag bejubeln. Da stören potentielle Unruhestifter nur. Für Stasi-Oberst Werner Weigelt in Gera stand fest: „Diese Personen dürfen nicht in die Hauptstadt einreisen!“ In Jüterbog müssen sie den Zug verlassen, werden nach zermürbenden Befragungen in das Stasi-Untersuchungsgefängnis der ostthüringischen Bezirkshauptstadt Gera eingeliefert, die zuständig ist für die „Bearbeitung“ der Jenenser Dissidentenszene.
Am 12. April ist Domaschk tot. Für Wensierski kein Selbstmord, denn die Stasi habe den sensiblen jungen Mann in den Tod getrieben. Hinter ihm liegen rund vierzig Stunden quälende Verhöre, Haftandrohung, Schlafentzug und schließlich eine erzwungene Verpflichtungserklärung zur konspirativen Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Die „Gegenleistung“ der Stasi, die Domaschk keinerlei Rechtsverstoß nachweisen konnte, war dessen sofortige Freilassung. Doch dazu kommt es nicht mehr.
„Ohne diese Vernehmungen hätte er sich das wohl nicht angetan“
In den Mittagstunden kapituliert er. Die Stasi hat ihn gebrochen. Der Autor zitiert aus seinem Gespräch mit Wachdienstleiter Wolfgang Schaller, der Domaschk als letzter vor dessen Freitod gesehen und gesprochen hat. „Ihre Blicke treffen sich. Leutnant Schaller wird diesen Moment nie vergessen“, heißt es in dem Buch, das das Geschehen vor mehr als vierzig Jahren minutiös rekonstruiert. Im „Besucherraum 121“ ist Domaschk unbeaufsichtigt, wird von Schaller dreißig Minuten später aufgeknüpft an einem Heizungsrohr gefunden. An der Wand ein Bild von Erich Honecker. Die Drucksituation war unerträglich geworden.
Oberleutnant Ronald Peißker, Domaschks letzter Vernehmer, wird mit dem Eingeständnis zitiert, „ohne diese Vernehmungen und ihre Folgen hätte er sich das wahrscheinlich nicht angetan. Aus dieser Sicht bin ich eigentlich mitschuldig und bereue das“. Stasi-Minister Erich Mielke hatte damals seinen Tschekisten den Rücken gestärkt: „Wenn sich Feinde selber richten, haben Genossen keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen.“ Jahrzehntelang war die Stasi verdächtigt worden, sie habe einen Freitod nur vorgetäuscht, um einen tödlichen Kollaps Domaschks während des Verhörs zu vertuschen. Dafür gibt es nach Wensierskis umfangreichen Recherchen keinen Anhaltspunkt mehr. Arbeitsgruppen und Gerichtsverfahren blieben ohne Ergebnis, auch weil die Stasi-Akteure von damals beharrlich schwiegen.
Der Verfasser Peter Wensierski, der in West-Berlin studiert hatte und seit 1979 als ARD-Journalist und Dokumentarfilmer aus der DDR berichtete, seit 1986 für das ARD-Magazin „Kontraste“, hat mit mehr als 190 Zeitzeugen gesprochen, darunter den ehemaligen MfS-Angehörigen, die 1981 mit Domaschk zu tun hatten. Wensierski wertete private Briefe und Tagebücher und vor allem die etwa 60.000 Seiten Stasi- und andere Akten aus. Mit Wensierskis dramaturgisch angelegtem, spannend geschriebenem Sachbuch dürfte der „Fall Mat-thias Domaschk“ zu einem gewissen Abschluß gekommen sein.
Peter Wensierski: Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk. Ch. Links Verlag, Berlin 2023, gebunden, 365 Seiten, 25 Euro