© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

Erichs Woodstock des Ostens
Die DDR glänzte 1973 im Licht der Weltjugendfestspiele – die Stasi immer im Hintergrund
Paul Leonhard

Die Ostmark und die Westmark, die waren beide mein./Die Ostmark ward zu Wasser, die Westmark ward zu Wein.“ So tönte es spätabends am Lagerfeuer im Pionierlager bei Berlin zur Gitarre. Berauscht vom billigen Wein und Schnaps hatten die Dresdner Studenten alle Zurückhaltung und Vorsicht fahren lassen. Textsicher war man, vor allem was das Liedgut der Studentenbewegung des frühen 19. Jahrhunderts betraf. Trinkfest ohnehin. Aber das waren die informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit auch, die noch am nächsten Morgen ihre Berichte erstatteten, so daß bereits am Nachmittag die „Vorfälle“ am Rande der Weltfestspiele offiziell ausgewertet werden konnten. Da auch hoffnungsvolle Nachwuchskader unter den Delinquenten waren und viele komplette Filmrisse vortäuschten und auch glaubhaft so aussahen, andere wiederum treuherzig versicherten, das alles üble Unterstellungen seien, ließen es die „verantwortlichen Genossen“ in diesem Fall bei der Androhung der sofortigen Exmatrikulation.

Es sind Anekdoten wie diese, die heute noch von Teilnehmern der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten erzählt werden. Die Einheitssozialisten hatten nach 1951 zum zweiten Mal den Zuschlag vom 1945 gegründeten linken Weltbund der Demokratischen Jugend (WBDJ) erhalten, Weltfestspiele auszurichten, und die Jugend der Welt vom 28. Juli bis 5. August 1973 nach Berlin eingeladen, um ihre „Stadt des Friedens“ und der Völkerverständigung zu präsentieren.

Etwa 25.000 Gäste aus 140 Ländern, nicht nur befreundeten, reisten an, bestaunten eine moderne sozialistische Großstadt mit Fernsehturm und Weltzeituhr, mit unzähligen Freiluftgaststätten. Und jene Jugendlichen aus dem Arbeiter- und Bauernstaat, die entweder als Delegierte oder als private Interessierte ebenfalls nach Ost-Berlin gefahren waren, scherten sich wenig um das offizielle Motto „Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft“, sondern staunten Bauklötze, was in der grauen DDR für neun Sommertage möglich war und nutzten dieses Zipfelchen der Freiheit, das ihnen hier geboten wurde. Wankelwütig wurden selbst jene mehr als 300.000 Mitglieder der Freien Deutschen Jugend, die vorab politisch geschult worden waren.

Die Staatsjugendlichen sollten nicht feiern, sondern die „DDR würdig vertreten, sich offensiv, sachlich und auf der Grundlage unseres Klassenstandpunktes mit unterschiedlichen politischen Auffassungen, Ideologien, Argumenten und Erscheinungen auseinandersetzen, mit aller Konsequenz aber gegen jegliche Aktivitäten auftreten, die sich gegen den Geist der Weltfestspiele richten und offene Hetze bzw. Diskriminierungen darstellen (Äußerung unterschiedlicher Meinungen nicht mit feindlicher Tätigkeit gleichsetzen)“, heißt es in den Unterlagen der Staatssicherheit. Diese hatte zuvor mögliche Fragen, mit denen die FDJ-Mitglieder konfrontiert werden könnten, sorgfältig herausgearbeitet und auch Antworten ersonnen, Fragen nach der deutschen Nation etwa, der Meinungsfreiheit und auch, ob Sex in der DDR verboten sei.

Daß er das nicht war, demonstrierten in diesen Tagen bei hochsommerlichen Temperaturen Zehntausende. „Es war irgendwie alles hormongeschwängert, Testosteron bis an die Schädeldecke. Die Mädels waren toll, die Röcke kurz, das Wetter war schön, die Stimmung aufgeheizt“, beschreibt rückblickend Jürgen Karney, Festivalteilnehmer und späterer Radiomoderator, gegenüber dem MDR seine Eindrücke. Und Christian Neef überschrieb 2015 seinen Beitrag in Spiegel-Geschichte über die Weltfestspiele mit dem Zitat „Die einen sind zum Vögeln hingefahren, andere wollten ihre Gaudi“ und faßt damit zusammen, wie die meisten Jugendlichen aus der DDR das Treffen empfanden, was in den meisten Westmedien als „Woodstock des Ostens“ oder „Summer of Love“ gefeiert wurde. Acht Millionen Menschen sollen offiziellen Angaben zufolge in diesen Tagen in Berlin zusammengekommen sein.

Die X. Weltfestspiele waren ein riesiger Erfolg für Erich Honecker – vor allem aber für die Staatssicherheit und die politischen Abteilungen der Kriminalpolizei. Stasi-Chef Erich Mielke hatte seine neue Taktik kurz und knapp formuliert: „Wir haben klar orientiert, daß man sich als Kommunist, als Tschekist diesmal wie die drei Affen verhalten muß und trotzdem sehen, hören und richtig und konsequent handeln, wo es sein muß.“

Ein ideologisch einwandfreies Bild von der DDR-Jugend vermitteln

Wer nicht allzu genau hinsah, erlebte eine exakt geplante und abgewogene Schauvorführung. Mehr als 90 Bühnen waren aufgebaut worden. Es gab nicht nur Musikgruppen, die politische Lieder schmetterten, sondern auch Rock und Pop. Sogar die Klaus-Renft-Combo („Schweine-Renft“) durfte in den Rathauspassagen spielen. Vielen ihrer Fans blieb dagegen die Anreise versagt. Sie hatten ein prophylaktisches Berlin-Verbot durch die Volkspolizei unterschreiben müssen oder waren gleich in Vorbeugehaft gewandert.

Zwischen dem 13. Juli und 4. August wurden – zumeist von der Kriminalpolizei – 23.532 Gespräche mit „kriminell und asozial gefährdeten Personen“ geführt, um deren Reise nach Berlin zu verhindern. Die meisten davon im damaligen Bezirk Dresden (3.368). Zuvor waren bereits auf Befehl des Innenministeriums bis 30. Juni 2.720 Verfahren gegen „negative, asoziale und vorbestrafte Personen sowie besonders gefährliche Rechtsverbrecher“ eingeleitet und 2.073 gleich inhaftiert worden, allein in Berlin 1.480.Weitere 553 Jugendliche wurden in die Psychiatrie eingewiesen, 929 verschwanden in Jugendwerkhöfen, 1.453 in Spezialkinderheimen, und etwa 800 mögliche Störenfriede mußten ihren Wohnort Berlin vor den Festspielen verlassen. 

Parallel hatte die Staatssicherheit zu verhindern, daß über die Bundesrepublik oder West-Berlin „negative und feindliche Kräfte“ einreisten. So heißt es in der Durchführungsbestimmung zum Befehl 13/73 der für die Paßkontrolle und den Tourismus zuständigen Stasi-Hauptabteilung VI Groß-Berlin: „Politisch operative Einflußnahme (…) auf das Reisebüro der DDR, um zu sichern, daß in der Zeit der X. Weltfestspiele für Personen mit ständigem Wohnsitz in Berlin (West) sowie Bürger der BRD und anderer nichtsozialistischer Staaten (…) keine Touristenreisen (…) mit dem Ziel des Aufenthalts in der Hauptstadt der DDR durchgeführt bzw. gewährt werden.“

Unangemeldete Besucher sollten aus der Hauptstadt der DDR ferngehalten werden. Der Refrain der Festivalhymne, mit dem der SED-konforme Oktoberklub seit Monaten die Republik beschallte – „Ja,ja, wir treffen uns auf jeden Fall, im Sommer 73 zum zehnten Festival“ – galt eben nicht für alle. Auch nicht für den westdeutschen Studentenführer Rudi Dutschke, dem – zumindest beim ersten Versuch – die Einreise in die DDR verweigert wurde.

Gleichzeitig wachten im Rahmen der Aktion „Banner“ mehr als 4.000 speziell geschulte hauptamtliche Mitarbeiter so gut sie konnten, daß die ausländischen Besucher tatsächlich jenes ideologisch einwandfreie Bild von der DDR-Jugend wahr- und mit nach Hause nahmen, das der SED vorschwebte. Allein für einen Moment standen die Weltfestspiele auf der Kippe, drohte der Abbruch: Denn am 1. August starb der zwei Jahre zuvor von Honecker entmachtete, frühere erste Mann der DDR, Walter Ulbricht, achtzigjährig. Doch Honecker entschied, daß die Festspiele weiterzugehen hatten. Der bei den Deutschen verhaßte „Spitzbart“, so wurde es kolportiert, habe es noch auf dem Totenbett so gewünscht.

Wie schwer es den 24.000 Volkspolizisten fiel, sich weisungsgemäß neun Tage lang zurückzuhalten, berichtet Reiner Kunze in seinem schmalen Bändchen „Die wunderbaren Jahre“: Am Morgen des 6. August 1973, die Kehrmaschinen lärmten über den Alexanderplatz, vertrieben Volkspolizisten einige an einem Brunnen Gitarre spielende Jugendliche mit dem lakonischen Satz: „Eure Zeit ist vorbei.“