© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

Liebe über Grenzen
Kino I: Das Melodram „In einem anderen Leben“ zeigt, was Emigration einer Jugendliebe antun kann
Dietmar Mehrens

Drei Menschen sitzen in einer Kneipe am Tresen und werden beobachtet. Links im Bild sind zwei Koreaner zu sehen, ein Mann und eine Frau, vertieft in ein ernstes Gespräch, rechts von der Frau ein weißer Amerikaner. Wer gehört zu wem? Sind die beiden Asiaten ein Paar, und ist der Mann westlichen Phänotyps ein Freund der beiden? Oder sind er und die Frau ein Paar und der Koreaner der Bruder der Frau?

„Past Lives – In einem anderen Leben“ wird das Rätsel, das Celine Song an den Anfang ihres Kinodebüts gepackt hat, lösen. Denn nach dieser kurzen Ouvertüre versetzt sie den Zuschauer nach Seoul, in die Hauptstadt von Südkorea, 24 Jahre vor dem Moment in der New Yorker Bar. Damals waren Na Young und Hae Sung unzertrennlich. Das hochbegabte Mädchen und ihr Mitschüler scheinen dazu bestimmt, irgendwann ein Liebespaar zu werden. Doch Na Youngs Eltern, er Filmregisseur, sie Künstlerin, haben eine Entscheidung gefällt, die dieses Szenario durchkreuzt: Sie wandern nach Kanada aus. „Warum denn das?“ wird die Schülerin in ihrer Klasse gefragt. „Weil Koreaner keinen Literaturnobelpreis gewinnen“, lautet die schnippische Antwort des Mädchens. Und die sagt einiges über Na Youngs Charakter aus: Sie hat Talent zum Schreiben, und sie hat Ehrgeiz.

Fern vom Ort der Kindheit neu Wurzeln schlagen

Als die beiden Jugendfreunde 24 Jahre alt sind, kommt es zu einem Wiedersehen. Die neu entstandenen sozialen Medien machen es möglich. Lange hat Hae Sung (Teo Yoo) nach seiner alten Freundin Na Young (Greta Lee) gefahndet. Da sie sich jetzt Nora nennt, war es nicht ganz einfach, sie wiederzufinden. Im Skype-Gespräch kommen sie einander wieder näher. Doch dann erkennt die junge Frau, die im Begriff ist, sich in New York eine berufliche Existenz aufzubauen, die Perspektivlosigkeit einer Zuneigung, die ein ganzer Ozean trennt. Sie bricht den Kontakt ab.

Im Rahmen eines Residenzprogramms für Künstler lernt sie einen anderen ambitionierten Autor, Arthur (John Magaro), kennen. In ihm erkennt sie eine Art Seelenverwandten. Auch Hae Sung findet im fernen Südkorea eine nette Freundin. Ist damit für die einstige Schülerliebe das Totenglöckchen geläutet? 

Der koreanische Begriff In-yun, das Leitmotiv des Films, ist mit seiner deutschen Entsprechung „Schicksal“ oder „Fügung“ nur ungenügend übersetzt. Denn In-yun, erfährt der Zuschauer in Songs subtilem Melodram, ist mehr: Es ist die von der buddhistischen Reinkarnationslehre beeinflußte Vorstellung, daß sich die Wege zweier Menschen nur scheinbar zufällig kreuzen. In Wahrheit waren sie in einem früheren Leben miteinander verbunden. Der Originaltitel „Past Lives“ („Vergangene Leben“) hat also einen doppelten Boden.

Nicht als abgedroschene Seitensprungsgeschichte, sondern mit viel Fingerspitzengefühl und ohne das sonst so vordringliche Interesse an den erotischen Aspekten der Mann-Frau-Anziehung inszenierte die in New York lebende Autorin Celine Song ihr leises Drama über Liebe, verpaßte Chancen, Schicksal und Bestimmung. Wie ihre Kollegin Lulu Wang in „The Farewell“ (JF 52/19) erzählt die Regisseurin eine autobiographisch gefärbte Geschichte. Auch diesmal geht es um die Spannung, die in einem Migrantenleben entsteht, wenn man fern vom Ort der eigenen Kindheit neu Wurzeln schlägt, aber die geistig-seelische Verwurzelung in der alten Heimat auf einmal unerwartete Blüten treibt, so daß plötzlich nicht mehr klar ist, wem gegenüber man sich eher loyal zu verhalten hat: dem Alten oder dem Neuen?

Bei den Berliner Filmfestspielen feierten Kritik und Publikum das stimmungsvolle Melodram. Allerdings reichte es nicht zu einem Preis. Das könnte daran liegen, daß einem manches an Songs Debüt für die große Leinwand bekannt vorkommt: In „Was gewesen wäre“ (2019) spielten Christiane Paul und Sebastian Hülk das durch die Wege des Schicksals auseinandergerissene Paar, für das es Jahrzehnte später ein unerwartetes Wiedersehen gibt. Insofern ist das Thema, das die koreanischstämmige Regisseurin in ihrem Film behandelt, nicht sonderlich originell. Aber das intensive und berührende Spiel ihrer beiden Hauptdarsteller verwandelt „In einem anderen Leben“ gleichwohl in einen Ozean der Gefühle, in dem man tief versinkt und aus dem man nur schwer wieder auftaucht.