Abendländer. Daß ein junger Franzose aus dem durch die Studentenunruhen vom Mai 1968 erschütterten Heimatland ausgerechnet in die gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogene Bonner Republik auswandert, ist ungewöhnlich genug. Daß ihm als Autodidakten dann im Land des einstigen „Erbfeindes“ eine fulminante Karriere als Bildhauer gelingt, noch ungewöhnlicher. Am meisten erstaunt jedoch, wie akzeptiert und souverän Serge Mangin, der Porträtist Ernst Jüngers und Helmut Kohls, ein Künstler mit überaus konservativen Ansichten, sich gesellschaftlich bis etwa zur Jahrtausendwende hierzulande bewegen kann (Interview JF 33/23). Danach wird die Luft für ihn dünner. Seine Lebenserinnerungen zeugen daher von einer Art Zivilisationsbruch, der nach dem Ende des Kalten Krieges eingetreten ist. Bis dahin seien in der Bundesrepublik, in Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien noch alteuropäisch-abendländische Strukturen mit ihren regionalen Traditionen bewahrt worden, die inzwischen unter dem Druck einer entfesselten Globalisierung samt Masseneinwanderung „wie alte Kerzen erloschen sind“. Bis zur Selbstverleugnung seien hier fünf große Völker unkenntlich geworden. Die „Monotonisierung der Welt“, wie sie Stefan Zweig schon in den 1920ern beobachtete, befindet sich für Mangin heute im Endstadium. Aber aller „Untergang des Abendlands“-Stimmung und seiner mitunter allzu konventionellen Kulturkritik zum Trotz vermittelt die Autobiographie des eigenwilligen Nachfahren von Rodin und Breker auch, wie sich Standorte im Zeitstrom verteidigen lassen. (wm)
Serge Mangin: Griechisches Licht. Ein Bildhauer für das Abendland. Langen Müller Verlag, München 2023, gebunden, 240 Seiten, 22 Euro
Fritz Reuter. Wie sein Enkel Walter später in dem Roman „Aus großer Zeit“ beschreibt, schmökerte der knorrige Mecklenburger Reeder Robert William Kempowski allzu gern noch in den Werken seines Landsmannes Fritz Reuter, wenn er sich zur Ruhe bettete. Die bewußt plattdeutsch formulierten Romane des Stavenhagener Bürgermeistersohns und wegen seines burschenschaftlichen Engagements „for Dütschlands Friheit und Eenigkeit“ in langer Festungshaft schmorenden Reuter schildern unnachahmlich die rustikale Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Sein Werk „Ut mine Stromtid“ entführt in die nur vermeintlich gemächliche Idylle von Onkel Bräsig und des Gutsbesitzers Pomuchelskopp. Um diese ferne ostelbische Lebenswelt auch Süddeutschen und den Gegenwärtigen jenseits der niederdeutschen Sprache zu erschließen, haben Friedrich und Barbara Minssen Reuters 1862 erschienenes Werk nun übersetzt und mit einem Nachwort versehen. (bä)
Fritz Reuter: Das Leben auf dem Lande (Ut mine Stromtid). Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2022, gebunden, 875 Seiten, 24 Euro