© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/23 / 01. September 2023

Das Koppel enger schnallen
Verteidigung: Wie die Bundesregierung beim Wehretat trickst – und somit das Zwei-Prozent-Ziel in Wahrheit nicht erreicht wird
Peter Möller

Anderthalb Jahre nach der Zeitenwende-Rede, die Olaf Scholz Ende Februar 2022 kurz nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine im Bundestag hielt, verfestigt sich der Eindruck, daß insbesondere die finanziellen Versprechungen des Bundeskanzlers für die seit Jahren ausgezehrte Bundeswehr zu schön waren, um wahr zu sein.

Sichtbarstes Zeichen dafür: Mitte August verabschiedete sich die Ampel-Koalition von ihrem Plan, die Erfüllung der Nato-Vorgabe, nach der die Mitgliedsstaaten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben sollen, gesetzlich festzuschreiben, um die Ausgaben für die Bundeswehr nicht mehr zur Verhandlungsmasse bei Koalitionsstreitigkeiten zu machen. Der im Kabinett beschlossene Entwurf für eine entsprechende Passage im Finanzierungs­gesetz wurde gestrichen – auf Druck des Auswärtigen Amts von Annalena Baerbock (Grüne). Vielen in ihrer Partei sind die zusätzlichen Milliarden für die Bundeswehr trotz der immer wieder bekundeten Unterstützung für die Ukraine ein Dorn im Auge. Sie sähen es lieber, wenn von den 100 Milliarden des Sondervermögens einige Milliarden für zivile Projekte der vernetzten Sicherheit oder Entwicklungshilfe abgezweigt würden.

Künftig weniger  Geld für Ausrüstung

Angesichts der neuerlichen Diskussion über den Wehretat versucht der Bundeskanzler, so gut es geht, Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Zeitenwende zu zerstreuen: „Wir haben uns entschieden, daß wir diese zwei Prozent für die Verteidigung für die Bundeswehr aufwenden wollen. Nächstes Jahr werden wir das aus Haushalts­mitteln und dem Sonder­vermögen das erste Mal erreichen“, sagte Scholz. Das werde auch so bleiben, wenn das Sonder­vermögen aufgebraucht sei.

Auch Finanzminister Christian Lindner (FDP) bekräftigte, der Verteidigungsetat werde mit Auslaufen des Sondervermögens spätestens 2028 stark ansteigen, damit das Zwei-Prozent-Ziel erreicht wird. Für Deutschland liegt dieses derzeit bei 85,5 Milliarden Euro, der reguläre Wehretat beträgt knapp 51 Milliarden. Hinzu kommen unter anderem Mittel aus dem Sondervermögen in Höhe von rund 8,4 Milliarden Euro.

Angesichts dieser Zahlen sieht das Ifo-Institut das Erreichen der Zwei-Prozent-Vorgabe auf Dauer gefährdet. Nach seinen Berechnungen kann zudem nur die Hälfte des Sondervermögens tatsächlich zum Kauf zusätzlicher Ausrüstung für die Truppe verwendet werden. 33 Prozent des Sondervermögens glichen Einsparungen beim Verteidigungsetat im Kernhaushalt aus. Acht Prozent würden für Zinsen aufgewendet. „Um dauerhaft zwei Prozent der Wirtschaftsleistung auszugeben, müßte der Verteidigungsetat schon jetzt sichtbar steigen“, sagte Ifo-Forscher Florian Dorn. Aktuell finde das Gegenteil statt. Seit 2022 sinke der Verteidigungsetat nach Abzug der Inflation. Daher verfehlt Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel in diesem Jahr um einen zweistelligen Milliardenbetrag und gehört zu den Mitgliedsstaaten mit dem größten Defizit. Geplante Investitionen werden in das Sondervermögen verschoben. Waren im Verteidigungsetat selbst im Jahre 2022 noch zehn Milliarden Euro für neue Ausrüstung vorgesehen, sind es 2024 weniger als drei Milliarden Euro, lautet die düstere Bestandsaufnahme der Experten.  

Die nächste Bundesregierung müßte nach den Prognosen des Instituts mit Auslaufen des Sondervermögens eine noch größere Ausgabenlücke schließen. Die jährliche Lücke zu den zwei Prozent liegt für die Jahre 2026 bis 2029 durchschnittlich bei 25 Milliarden Euro. Hinzu kommen etwa drei Milliarden Euro für die Zinslast der um hundert Milliarden Euro gestiegenen Schulden. 

Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, teilt die Befürchtungen des Ifo-Instituts und hat die Regierung zu einer dauerhaften Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels der Nato aufgefordert. Wenn alles so weitergehe wie bisher, laufe Deutschland Gefahr, Vertrauen zu verspielen und nur sehr bedingt abwehrbereit zu sein, sagte er dem Focus. Nach einer Zeitenwende hört sich das nicht mehr an.