Nach Karl Marx ist das Schicksal kapitalistischer Gesellschaften oder wirtschaftlich freier Volkswirtschaften mit Privateigentum an Produktionskapital die Verelendung. Bisher ist das nicht geschehen. Der Gesellschaftsvergleich ergibt aber noch Schlimmeres für diese Theorie: Je freier oder kapitalistischer eine Volkswirtschaft ist oder durch Reformen wird, desto wohlhabender ist sie und desto schneller wächst ihre Wirtschaft. Der Trend ist eindeutig: Die Menschheit wächst aus der Massenarmut heraus, sofern die Regierungen das nicht verhindern. Das Wachstum kommt auch und gerade vielen Armen zugute. Hunderte von Millionen ehemals bitter armer Asiaten sind schon der ärgsten Armut entronnen. Es gibt Rückschläge, wie etwa durch die Corona-Pandemie. Es gibt auch Ausnahmen beim Zusammenhang von wirtschaftlicher Freiheit und Wohlstand oder Wachstum. Manche auffälligen Ausnahmen, wie Chinas Wirtschaftswunder, sind bei genauerem Hinsehen entweder umstritten oder gar keine Ausnahmen mehr. Hier soll es aber um die Position Deutschlands und Europas in der Weltwirtschaft gehen. Das Gesamtbild muß optimistisch stimmen. Aber wie schlagen sich Deutschland oder Europa bei diesem globalen Aufwärtstrend?
In der ökonometrischen Forschung gibt es nur wenige Befunde, die gleichzeitig stark und robust sind, also immer wieder von unterschiedlichen Forschern bestätigt werden: Ärmere Volkswirtschaften können häufig (nicht immer) schneller wachsen als reichere. Anders gesagt: Ärmere Länder verfügen über „Vorteile der Rückständigkeit“. Sie können wenig produktiv in der Landwirtschaft beschäftigte Menschen in die Industrie und später in den Dienstleistungsbereich umsetzen und dort produktiver beschäftigen. In reichen Ländern sind die meisten Menschen ohnehin schon dort beschäftigt. Im Dienstleistungsbereich gibt es viele Zweige, wo Produktivitätsfortschritte schwer zu erreichen sind: etwa im Bildungssystem, bei der Behandlung und Pflege von Alten und Kranken oder in der Bürokratie. Die „Vorteile der Rückständigkeit“ ergeben sich zum Teil aus der wirtschaftlichen Freiheit, die in reicheren Ländern anderswo herrscht. Von dort können ärmere Länder Ideen, Produktionstechnologien, Geschäftsmodelle übernehmen. Dorthin können sie Studenten und Facharbeiter zur Ausbildung schicken. Dort findet man kaufkräftige Abnehmer für die eigenen Exporte. Weil Imitation schneller als Innovation gehen kann, ergeben sich „Vorteile der Rückständigkeit“ aus der Freiheit anderswo.
Viele Asiaten haben von der wirtschaftlichen Freiheit des Westens profitiert, trotz hoher Freiheitsdefizite sogar in Ländern wie China oder Vietnam. Weil die USA noch deutlich reicher sind als Deutschland oder Europa, weil die USA auf vielen Gebieten technologischer Vorreiter sind, müßten auch wir Deutschen und Europäer – wenn auch in viel geringerem Maße als die Chinesen oder Inder – von den „Vorteilen der Rückständigkeit“ profitieren können. Merkwürdigerweise gelingt es uns in den letzten drei Jahrzehnten kaum noch, die Wohlstandslücke zu den USA zu verringern. Eher das Gegenteil: Das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands oder anderer großer europäischer Länder (wie Frankreich, Großbritannien oder Italien) nimmt relativ zu dem der USA wieder ab. Im Gegensatz zur Nachkriegszeit vermögen wir es nicht mehr, die Vorzüge der Rückständigkeit auszubeuten.
Zumindest dann, wenn man die Humankapitalausstattung von Gesellschaften nicht über vielleicht unproduktiv eingesetzte Inputs (Schulen, Lehrer, Kosten), sondern über Leistungstests erfaßt, dann spielt die Humankapitalausstattung eine annähernd genauso wichtige Rolle für das Wachstum wie die „Vorteile der Rückständigkeit“. Zwischen Deutschland und Europa einerseits und den USA andererseits vorhandene Testunterschiede sind nicht groß genug, um viel zur Erklärung beizutragen, warum weder Deutschland noch Europa aufholen. Aussichtsreicher ist es, auf die demographische Entwicklung zu schauen, wo die USA vor allem gegenüber Deutschland und Italien, weniger gegenüber Frankreich einen demographischen Vorteil genießen. Obwohl die amerikanische Gesellschaft über einen höheren Anteil an Menschen im arbeitsfähigen Alter verfügt, leisten sich Deutschland und andere europäische Länder deutlich kürzere Jahresarbeitszeiten. Bei der Überalterung sind Deutschland und Italien den Amerikanern voraus. Das hat nicht nur den Effekt, daß oft der Nachwuchs fehlt, sondern das muß auch die Innovationsbereitschaft beeinträchtigen. Renten und Pflegeheime werden für Wahlkämpfer wichtiger, Top-Universitäten oder Digitalisierung verlieren an Bedeutung.
Für die Humankapitalausstattung von Gesellschaften bedeutsam sind auch Quantität und Qualität der Migration. Es gibt zwei Unterschiede zwischen den USA einerseits und Deutschland und anderen europäischen Ländern andererseits. Die USA ziehen nach wie vor Spitzentalente aus aller Welt an, die dort die naturwissenschaftliche Forschung vorantreiben und Nobelpreise gewinnen, in IT-Firmen arbeiten oder gar diese führen, oder als Investoren von der Größe, Innovationsfähigkeit und Kaufkraft des amerikanischen Marktes profitieren wollen. Amerikas Sogwirkung auf globale Spitzentalente wird dadurch verstärkt, daß man dort im Gegensatz zu den meisten Ländern Europas die Weltsprache Englisch spricht, ohne die sich kaum ein Spitzentalent entfalten kann. Was Spitzentalente angeht, wird Europa nicht vermeiden können, an Amerika abzugeben statt welche von Amerika zu bekommen. Das unterschiedliche Ausmaß der Steuerbelastung auf beiden Seiten des Atlantiks verschärft Europas Nachteile. Die hohe und progressive Besteuerung in Europas Sozialstaaten treibt Talente nach Amerika. Europa leidet mehr als die USA unter Armutsmigration. Rechtlich hat das viel mit Asyl und Flucht vor Kriegen und daraus abgeleiteten Ansprüchen zu tun. Ökonomisch ist von Bedeutung, daß die Humankapitalausstattung der Zuwanderer meist bescheiden ist. Manche sind Analphabeten. Wenige haben eine Ausbildung genossen, die den Erfordernissen im Zielland entspricht. Die wenigsten Migranten sprechen Deutsch oder kennen die deutschen Sitten und Gebräuche. Die überwältigende Mehrheit der Zuwanderer kommt mit einer bescheidenen Humankapitalausstattung an, die mangels Kenntnis der Landessprache im Migrationsprozeß weiter abgewertet wird.
Da ist es leicht einzusehen, warum nur eine Minderheit der Migranten bald einen festen Vollzeitarbeitsplatz findet, warum inzwischen fast jeder zweite Sozialleistungsbezieher in Deutschland ein Migrant ist. Innerhalb von Gesellschaften sind die eigenen Fähigkeiten eine bedeutsame Determinante des eigenen Einkommens. Global gesehen sind die Fähigkeiten der Anderen im eigenen Land noch wichtiger. Die Absenkung der Humankapitalausstattung durch unqualifizierte Zuwanderung schadet deshalb den Einheimischen. Es gibt Schätzungen, wonach der typische Zuwanderer für den Fiskus bzw. die Gesamtheit der Steuerzahler ein Verlustgeschäft in der Nähe von 200.000 Euro ist. In Deutschland sind die jährlichen Kosten durch Zuwanderung vielleicht bei 30 Milliarden.
Bei der Flucht nach Europa oder der meist illegalen Einreise müssen die Migranten „lernen“, die vor Ort jeweils geltenden Gesetze und Vorschriften zu mißachten. Um eine Repatriierung oder Abschiebung zu erschweren, biete es sich an, Ausweise und Reisedokumente zu vernichten. Hinzu kommt, daß Zuwanderer als Fremde Sitten und Recht des Gastlandes nie gut kennen können und deshalb häufig dagegen verstoßen müssen. Auch bei der Erziehung der Kinder ist es unrealistisch, von Eltern mit Migrationshintergrund dieselben Leistungen wie von Einheimischen zu erwarten. Das fängt mit Vermittlung der Landessprache an und geht über die Weitergabe ortsüblicher Gewohnheiten und Sitten bis zu elterlicher Nachhilfe für leistungsschwache Schüler.
Grundsätzlich ist es zwar richtig, daß die Aufnahme von Zuwanderern das demographische Problem alternder Gesellschaften mildern kann, aber nur wenn das Gastland geeignete Arbeitskräfte rekrutiert und nicht etwa unter Zuwanderung in die Sozialleistungssysteme leidet. Die deutsche Migrationspolitik und die mancher Nachbarländer ist primär moralisch motiviert. Es gibt starke Hemmungen, abgelehnte oder gar im Gastland kriminell gewordene Zuwanderer auszuweisen. In Amerika hat es nicht nur unter Trump, sondern auch unter Obama oder Biden massive Rückführungen oder Grenzsperrungen gegeben. Die deutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik will nur Hilfsbedürftigen helfen und vermeidet die Frage nach den Konsequenzen der Politik sowohl für die Finanzierbarkeit des eigenen Sozialstaats als auch für die Stabilität der Gesellschaft. Ethnische oder religiöse Heterogenität hat schließlich in vielen Ländern zu Instabilität und Bürgerkrieg beigetragen, in Europa beispielsweise in Nordirland oder im ehemaligen Jugoslawien.
Wenn es darum geht, Wünschenswertes oder moralisch Gebotenes zu leisten, sind die Fragen nach der Machbarkeit, den Kosten oder der Effizienz der Politik in Deutschland und manchen anderen Ländern fast schon ein Tabu. Das gilt auch für die Klimapolitik. Deutschland hat weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung, ist für weniger als zwei Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, erlaubt sich aber eine Energiepolitik, die heute schon zu wesentlich höheren Elektrizitätspreisen als in China, den USA oder sogar dem atomfreundlichen Frankreich geführt hat. Wegen der immer wieder auftretenden Dunkelflauten könnte es künftig Probleme mit der Netzstabilität bekommen. Als kleines Land kann Deutschland nur einen kleinen Beitrag zur „Rettung“ des Klimas leisten. Der globale Nutzen der deutschen Anstrengungen hängt davon ab, ob unsere Maßnahmen so kostengünstig sind, daß auch Amerikaner, Chinesen oder Inder sich davon inspirieren lassen und unserem Vorbild folgen wollen. Weil deutsche und andere europäische Klimaschützer eine Affinität zur Planwirtschaft haben, wissen sie nicht, daß diese weder mit einer rationalen Ressourcenallokation noch mit der Nutzung des nicht zentralisierbaren menschlichen Wissens kompatibel ist. Nach dem Wall Street Journal ist die deutsche Energie- und Klimapolitik die „weltweit dümmste“. Nicht viele Länder werden diesem Beispiel folgen wollen. Kostenschätzungen gehen bis zu 500 Milliarden Euro pro Jahr oder der Größenordnung des deutschen Bundeshaushalts.
Wenn man hinzunimmt, daß Deutschland neben der expliziten eine implizite Staatsverschuldung, also Versprechungen für Alte und Kranke zu sorgen, in der vierfachen Höhe des Bruttoinlandsprodukts vor sich herschiebt, dann ist es höchste Zeit, sich weniger Gedanken um das zu machen, was wir etwa in der Migrations- oder Klimapolitik leisten sollen oder müssen, als um das, was wir können. Einsicht in das Gute oder das, was wir sollen, nützt niemandem, wenn wir es einfach nicht können. Moralische Großmächte, die immer weniger zustande bringen, machen sich lächerlich.
Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie unter anderem an den Universitäten Köln und Bonn. Er ist Mitgründer der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft.