Kommt, reden wir zusammen / wer redet ist nicht tot, / es züngeln doch die Flammen / schon sehr um unsere Not“, bat 1955 Gottfried Benn. Er beobachtete in der westdeutschen Konsensdemokratie eine wachsende Unlust, sich auf kontroverse Gespräche einzulassen. Diese steigerte sich allmählich zu der unverhohlenen Neigung, mit Diskussionen überhaupt Schluß zu machen, seit das TINA-Prinzip von Margaret Thatcher nahezu stürmische Zustimmung fand: there is no alternative.
Wenn es zu den jeweiligen politischen und wissenschaftlichen Entscheidungen keine Alternative mehr geben kann, erübrigt sich jeder Austausch von Argumenten. Er ist dann reine Zeitverschwendung. Wer sich dem Konsens verweigert, erregt den Verdacht, die öffentliche Verfassung destabilisieren zu wollen und schließt sich aus der Gemeinschaft wahrhafter und wehrhafter Demokraten aus. Diese müssen auf Einheit und Vereinheitlichung achten, weil es nur eine Vernunft gibt, der die von ihr Erhellten, die Vernünftigen, folgen. Sie bestätigen einander bei vielen Gelegenheiten, „absolut“ oder „total“ übereinzustimmen.
Der einen Vernunft ist die Wissenschaft, sind die Wissenschaftler verpflichtet. Die alternativlose, unbedingt vernünftige Politik beruft sich deshalb immer häufiger auf „die Wissenschaft“, in deren Namen Experten die Maßnahmen und Verordnungen der jeweiligen Regierung mit Rat und Tat begleiten und vor jedem Widerspruch sichern sollen. Die Politik will auf diese Weise als unangreifbares Organ des wissenschaftlichen Geistes verstanden werden, der die gesamte Gesellschaft durchdringen und in tüchtiger Ordnung erhalten soll.
Die Verbindung von Regierungen, Politikern und Parteien mit Instituten und wissenschaftlichen Organisationen unterschiedlichster Art bestätigen eindrucksvoll, wie gewissenhaft Forscher ihren sozialen Auftrag wahrnehmen, sich nützlich zu machen. Wir leben schließlich in einer Wissensgesellschaft, in der es auf die Zusammenarbeit mit den Wissensproduzenten ankommt. Sie orientieren sich wie die Politiker am Gemeinwohl. Unter Verweis auf das Gemeinwohl setzen Zukunftsgestalter um, was aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse politisch dringend geboten ist, damit Problemlösungen in der Gegenwart wie ein Sprungbrett wirken hinüber in eine schöne, rundum gesündere Welt, frei von Ansteckungsherden, die Unheil stiften und vereinter Abwehrkräfte bedürfen.
Wer dies uneingeschränkte Vertrauen in „die Wissenschaft“ nicht teilt, gerät sofort in den Verdacht, ein „Wissenschaftsleugner“ und ein unzuverlässiger Demokrat zu sein. Dabei ist keiner in der Lage, den wissenschaftlichen Großbetrieb zu überblicken. Auch die hochspezialisierten Wissenschaftler, die im Namen „der Wissenschaft“ reden, kennen nur einen kleinen Ausschnitt von ihr. „Die Wissenschaft“ wird von keiner Institution repräsentiert. Eine kulturelle Idee vom Zusammenhang vieler Wissenschaften hat sich längst aufgelöst und mit ihr eine Vorstellung von der geistigen Bedeutung der Universität, deren bildende Aufgabe nicht darin bestand, nur Wissen und Informationen zu vermitteln. Erinnerungen an die geistige und praktische Unabhängigkeit der Wissenschaftler, an die Freiheit ihrer Forschung und Lehre, schaffen nur allgemeine Verlegenheit. Unsere Wissensgesellschaft als Wertegemeinschaft bildet eine Verantwortungsgemeinschaft. Der Verantwortung gegenüber darf sich keiner entziehen. Freiheitsrechte sind Gemeinschaftsrechte und deswegen der gesellschaftlichen Solidarität verpflichtet.
Die zweckfreie Wissenschaft „als etwas nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“, soll mittlerweile Zwecken dienen, die nichts mehr mit ihrer Bestimmung zu tun haben, wie sie einst Wilhelm von Humboldt einprägsam formulierte. Regierungen, Unternehmen, sämtliche gesellschaftlichen Organisationen bis hinab zu Fußballvereinen brauchen für ihre Interessen und Planungen Ratschläge von sogenannten „Experten“, um ihren sozialen Aufgaben gerecht werden und als Subsystem im Gesamtsystem angemessen funktionieren zu können. Ganz private Absichten, Vorteilserwägungen und Machtinteressen erhalten auf diese Weise die höheren Weihen zivilgesellschaftlicher Uneigennützigkeit und staatlich-politische Aktivitäten die Würde wissenschaftlich gebotener, alternativloser Notwendigkeit. Auftraggeber und Wissenschaftler geraten unter solchen Vorsetzungen in wechselseitige Abhängigkeit.
Wissenschaftler und Wissenschaft sind freilich zweierlei Ding. Das Gezänk der Gelehrten, ihre Eitelkeit und Rechthaberei, veranschaulichte oft genug, daß es unter Wissenschaftlern nicht um Freiheit und Wahrheit geht, sondern um die Vorherrschaft von Meinungen und Schulen.
Der große Wissenschaftspolitiker unter Wilhelm II. – Friedrich Althoff – schätzte, obschon selbst zeitweise Professor – die Wissenschaft, aber nicht die Wissenschaftler. Damit befand er sich in voller Übereinstimmung mit Wilhelm von Humboldt, der nie nach einem Lehrstuhl strebte, abgestoßen von der Kleinlichkeit vieler Professoren, ihrem Neid aufeinander und ihrem Eifer, Konkurrenten zu schaden oder zu erledigen.
Friedrich von Schiller, als Professor in Jena mit der Universität und den Sitten wie Unsitten der Gelehrten vertraut, bemerkte, daß so mancher prächtig von der Wissenschaft lebt und nicht für sie und ihren Fortschritt. Solche Brotgelehrten suchen nicht bei ihren Gedankenschätzen ihren Lohn. Sie erwarten und finden gesellschaftliche Anerkennung, Ehrenstellen, Versorgung, Zeitungslob und Fürstengunst.
Goethe, ein bedeutender Wissenschaftler, kannte die Grenzen der Wissenschaften. Trotz aller Wißbegier können wir nur wenig wissen. Die Frage stelle sich allein, ob wir das Wenige zumindest gut wissen. Da unser Wissen immer nur halb sein könne, hindere das Halbgewußte unser Wissen und verleite zu Einseitigkeiten und Unduldsamkeit, welche die Wissenschaft und den Wissenschaftler vielen so verdrießlich und ungesellig mache.
Heute berufen sich Berater und deren Lautverstärker in den Medien gerne darauf, mit ihrer Meinung zu bekräftigen, worin sich die Mehrheit der Wissenschaftler ohnehin einig ist. Goethe wurde höchst aufgebracht, wenn Wissenschaftler die Mehrheit als Autorität bemühten, um sich vor Widerrede abzusichern. „Nichts ist widerwärtiger als die Majorität: denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will“, wie er in den „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“ festhielt. Eine solch herzhafte Polemik könnte sich heute kein Minister und hoher Beamter, beides war Goethe, oder ein stiller, eigenwilliger Gelehrter leisten. Er würde die Aufmerksamkeit der wehrhaften Demokraten und des Verfassungsschutzes auf sich lenken, das Fundament der Wissensgesellschaft und der Wertegemeinschaft zu erschüttern, nämlich das Mehrheitsprinzip. Was die Mehrheit denkt und weiß, das kann nicht falsch sein, das sollen sich alle zu eigen machen, damit die Verantwortungsgemeinschaft und deren Vernunft vor Schaden bewahrt wird!
Die Geschichte der Wissenschaften unterrichtet allerdings darüber, wieviel Irrtümer lange genug als unwiderlegbare Erkenntnis und Wahrheit gegolten haben oder wie Wissenschaftler Hypothesen anderer falsch verstanden und Mißverständnisse verbreiteten, die sich hartnäckig behaupteten, weil viele sie übernahmen und erweiterten. „Die Wissenschaft“ mag immer als der große Lichtbringer begriffen werden, doch auch ein Irrlicht ist ein Licht, und manches Feuerwerk blendet vorübergehend, verpufft alsbald und hinterläßt nur einen sich rasch verflüchtigenden faden Geruch.
Sämtliche modernen Ideologien brauchen wissenschaftlichen Beistand und erhielten und erhalten ihn. Wissenschaftler mögen jetzt den Rassengedanken, Rassenhygiene, Eugenik, den Sozialdarwinismus, die Soziobiologie und deren Richtungen als Wahn verurteilen. Aber es waren Wissenschaftler, die diese Ideen vortrugen und ihren Gegnern vorwarfen, im Wahne überholter Vorstellungen und Vorurteile befangen zu sein, von denen Menschen und Bürger befreit werden müßten, um nicht weiter über ihre Rechte und Pflichten in einer wie auch immer näher bestimmten Verantwortungsgemeinschaft im Unklaren zu bleiben.
Die Wissenschaft ist eine hehre Abstraktion, gemeinsam mit dem Guten und Schönen zum Wahren zu führen. Aber es kann sie nicht ohne Menschen geben, und denen fällt es nicht immer leicht, trotz aller vernünftigen Anstrengungen, Irrtümern und politischen Versuchungen nicht zu erliegen. Sein unzulängliches Wissen steht dem Wissenschaftler oft im Wege, der wegen des Staubes, den er vor den Objekten seiner Beobachtung aufwirbelt, die Phänomene gar nicht genau zu erkennen vermag, die er doch richtig zu verstehen und einzuordnen bemüht ist.
Die Wissenschaftler, die im alten Preußen und im übrigen Deutschland und Österreich-Ungarn sehr gut vom Staat bezahlt wurden, damit sie sich nicht dazu verleiten ließen, sich privaten Geldgebern und deren Interessen zur Verfügung zu stellen, werden heute dazu gedrängt, ihren „Elfenbeinturm“ zu verlassen und mit gesellschaftlicher Umtriebigkeit und dem Werben um „Drittmittel“ ihre soziale Relevanz zu beweisen, die Prominenz verspricht und der Kompetenz einen besonderen Zauber verleiht, eine Kraft zu sein, die rettet, wo Hilfe nottut.
Ein Begriff von „der Wissenschaft“ verdunstet. Er wird ersetzt von dem Glauben an „die Wissenschaft“ als Nothelfer und Erlöser von allen Übeln. Diese Wissenschaftsgläubigkeit verleiht dem Wissenschaftler einen besonderen Charakter wie dem Priester: dazu berufen zu sein, weil mit dem Heiligen Geist der Wissenschaftlichkeit begabt, hilflose Laien moralisch aufzurüsten und sämtlichen Anschlägen aller Unvernünftigen auf die Demokratie und auf enthusiastische Demokraten zu wehren, die in der Wertegemeinschaft wie im Heiligen Hain wandeln und während dieses löblichen Tuns nicht aufgeschreckt werden sollen.
Politiker, die an der Substanz der überlieferten politischen Vorstellungen zweifeln, verlangt es nach Gewißheiten, nach Heilsgewißheiten, um als Heiland wirken zu können, unterstützt von den in den Geist der Wissenschaftlichkeit Eingeweihten, den Wissenschaftlern. Die Demokratie und die Wissenschaft werden in das Reich des Numinosen gerückt und der Wirklichkeit entrückt. Das bekommt weder der Demokratie noch der Wissenschaft gut, die ihre Relativität wechselseitig feierlich in viel Weihrauch hüllen und für verwirrende Unklarheit sorgen. Die Flammen züngeln heftig weiter um unsere Not.
Dr. phil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor, war Feuilletonredakteur der FAZ und Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin.