Mehr als 100.000 Erwähnungen spucken einschlägige Datenbanken zu Hannah Arendt aus. Diese Fülle stellt jeden Autor vor die Qual der Wahl, einen noch nicht ausgetretenen Zugang zur Biographie der wirkmächtigsten politischen Theoretikerin des 20. Jahrhunderts findenmüssen. Der auf „jüdisches Denken“ spezialisierte Philosophiehistoriker Thomas Meyer (LMU München) löst das Problem auf scheinbar elegante Weise, indem er sich absetzt von der „Aktualität“, mit der zahllose Studien das Œuvre der 1975 verstorbenen politischen Theoretikerin gebetsmühlenartig seitdem angepriesen haben.
Statt nach Aktualität zu haschen, tritt Meyer einen Schritt zurück, um Leben und Werk „nahezu vollständig in ihrer Zeit darzustellen“. Aus solcher Distanz heraus sei „die erste auf Archivrecherchen beruhende Biographie“ Arendts entstanden. Vier Jahre hat Meyer dafür benötigt, unterstützt von einer in der Danksagung aufmarschierten transatlantischen Kompanie Hilfswilliger, die die Frage provoziert, was der Autor eigentlich selbst zu diesem auf schlechtem Papier gedruckten, ohne Quellen- und Literaturverzeichnis erschienenen Opus beisteuerte.
Die Absage an das bewährte, auf „Aktualität“ spekulierende Geschäftsmodell der Arendt-Industrie wurzelt bei Meyer jedoch nicht in einer plötzlichen Bekehrung zu Rankes in „progressiven“ Kreisen viel geschmähtem Historismus, der Vergangenes nicht mit der Brechstange vergegenwärtigen, sondern wissen will, „wie es eigentlich gewesen ist“. Vielmehr scheint Meyers Rückzug ins Archiv durch eine betriebsame Forschung erzwungen, die mittlerweile ahnen lasse, mit Arendts „Aktualität aufs falsche Pferd gesetzt“ zu haben. Denn mehr und mehr werfe die kritische Sichtung ihrer politischen Publizistik die Frage auf, ob die linksliberale Ikone nicht auf seiten der „Kolonialisten, Rassisten und Israel-Verächter“ stand. Überdies sei die „knietief in den Vorurteilen ihrer Zeit“ watende Medienintellektuelle avant la lettre offenkundig desinteressiert gewesen an allem, was heute Diskurse dominiere, an Multikulturalismus, Menschenrecht, Feminismus, Geschlechtergerechtigkeit.
Tatsächlich haben klügere Exegeten Arendts wie Henning Ottmann und Hauke Brunkhorst schon in den 1990ern bemerkt, daß das Hauptwerk ihrer politischen Anthropologie, „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (deutsch 1960) mitsamt ihrer Totalitarismustheorie („Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (deutsch 1956) und der Reflexionen „Über die Revolution“ (1963) mühelos als antiquiert, geistesaristokratisch, utopisch, eurozentrisch, patriarchalisch und anti-emanzipatorisch bewertet werden könne. Worüber Arendt sich früh im klaren war, wie eine der vielen, stets etwas sarkastisch klingenden Selbstaussagen im legendären TV-Interview mit Günter Gaus (1963) dokumentiert. Ihm gestand die Königsberger „höhere Tochter“ freimütig mit leicht rollendem ostpreußischen Zungenschlag: „Ich bin eigentlich altmodisch gewesen. Ich war immer der Meinung, es gibt bestimmte Beschäftigungen, die sich für Frauen nicht schicken, die ihnen nicht stehen, wenn ich einmal so sagen darf.“
In der Rezeptionsgeschichte dreht sich also der Wind. Es ist daher nur zu begreiflich, wenn Meyer seine Heldin in die vermeintlich sichere Deckung jenseits des „Aktuellen“ bringen will. Darum konzentriert sich diese Biographie auf jene Lebensabschnitte, in denen die politische Theorie für sie noch gar keine oder allenfalls eine Nebenrolle spielt: auf die Königsberger Jugend und die ersten zwei Emigrationsjahrzehnte in Paris und New York, in deren Zentrum ihr zionistisches Engagement und ihre Beteiligung an der Rettung aus Deutschland geflohener Kinder steht, denen sie half, nach Palästina auszuwandern. Zugespitzt formuliert: Meyer präsentiert Arendt als Backfisch und als Flüchtlingshelferin.
Für die Darstellung der Königsberger Jahre holt Meyer weit aus und geht in der Geschichte der vor dem Ersten Weltkrieg fest im assimilierten, wohlhabenden, traditionell demokratisch-fortschrittlich orientierten Judentum der ostpreußischen Provinzhauptstadt wurzelnden Familie bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Dieses ausführliche, für einen Debütanten auf dem Archivparkett immerhin respektablen Spürsinn verratende Kapitel wäre allerdings besser in der vom Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen herausgegebenen Altpreußischen Genealogie aufgehoben gewesen, liefert doch das fleißig aus Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen kompilierte karge Material naturgemäß eine halbwegs plastische Profilskizze erst von der Großeltern- und Elterngeneration.
Der so entscheidenden wie nachhaltigen Königsberger Prägung Arendts, jenseits der auch hier nicht präziser geklärten Details ihrer schulischen Sozialisation, weicht Meyer allerdings konsequent aus, da sie ihn wieder in die Untiefen ihrer in die Kritik geratenen politischen Theorie lotsen würde. Nur mit ein paar Zeilen berücksichtigt er daher, was das Arendt-Porträt in Jürgen Mantheys Geschichte der Königsberger „Weltbürgerrepublik“ (2005) breit ausmalt: den „historischen Augenblick“ der im Winter 1918/19 ins Diktatorische und Terroristische umschlagenden Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrats am Pregel. Dieser gehörten damals alle ihrer damals zwölfjährigen Tochter vermittelten Sympathien Martha Arendts, die eine Sozialdemokratin und leidenschaftliche Verehrerin der Räteenthusiastin Rosa Luxemburg war.
Auf das Ideal des Rätesystems ist fortan auch der Kompaß der politischen Spätromantikerin Hannah Arendt ausgerichtet. Dafür sei die „gräzistisch erzogene Gymnasiastin“ mit dem lebenslangen Faible für überschaubare, als vermeintlich „herrschaftsfreier“ Raum der athenischen Polis ähnelnde Gemeinwesen disponiert gewesen. Wie Kohorten ebenso humanistisch gedrillter akademischer Bildungsbürger, denen die Antike zum Maßstab ihrer so kulturkritischen wie weltfremden Beurteilung der Moderne wurde (Hauke Brunkhorst). Nicht zufällig mündet diese von Meyer sorgsam ausgeklammerte tiefe Königsberger Schulerfahrung, die sich wie ein roter Faden durch Arendts politische Theorie zieht und sie zu wahren „Betrachtungen einer Unpolitischen“ macht, in „Über die Revolution“ in einem Hymnus auf die eigentlich humane, weil die „Spontanität“ des handelnden Menschen freisetzende, als basisdemokratisch verklärte Räteherrschaft.
Eine Arbeit, die an diesem Zentrum von Arendts Schaffen aus berechtigter Furcht vor dessen Einbuße an Aktualität vorbeigeht, erfindet die Biographie als Kunstform einer Wissenschaft vom Nichtwissenswerten neu. Wenn FAS-Rezensentin Julia Encke das Ergebnis als „spektakulär“ rühmt (Ausgabe vom 1. Oktober), trifft sie mit diesem so nicht gemeinten Adjektiv doch das krasse Mißverhältnis, das in dieser Biographie zwischen Aufwand und Ertrag klafft.
Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biographie. Piper Verlag, München 2023, gebunden, 528 Seiten, 28 Euro