© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/23 / 20. Oktober 2023

Zweimal Nein
Die Biographie von „Hitlers Stellvertreter“ Rudolf Heß offenbart noch einige Lücken. Manfred Görtemaker will das ändern. Doch auch der Potsdamer Emeritus präsentiert vor allem Altbekanntes
Stefan Scheil

Nun liegt sie also vor, Manfred Görtemakers seit längerem angekündigte Biographie von Rudolf Heß, dem „Stellvertreter“. Neue Quellen seien dafür von Görtemaker erschlossen worden, heißt es, darunter ein in der Schweiz lagernder Nachlaß von Heß, den Görtemaker ausgewertet habe und der bisher übersehene Briefe von Heß enthalte. Dies klingt spannend. Der Autor selbst, emeritierter Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, nennt als Bilanz seines neuen Werkes, daß „die Erforschung des Nationalsozialismus noch keineswegs abgeschlossen ist“.

Dieser letzten Feststellung wird man sicher zustimmen können. Die Frage jedoch, ob einige neue Detailfunde eine über 750seitige Biographie rechtfertigen, ist eher mit Zurückhaltung zu beantworten. Das liegt vor allem an der Person Rudolf Heß, die auch bei Görtemaker merkwürdig blaß bleibt. Immer wieder geht die Darstellung in langen Abschnitten weg von Heß in allgemeine Geschichtsschreibung über. Die Weimarer Verhältnisse werden dargestellt, die Entwicklung zum Hitlerputsch im November 1923 sehr gut aufgearbeitet, aber es bleibt eben nicht verborgen, wie gering die Rolle von Heß bei diesen Vorgängen einzustufen ist. 

Er entschied nichts und tat, was man ihm sagte. So etwa, als er am Vortag des Novemberputschs mitgeteilt bekam, welche Personen er zu verhaften habe und offenbar eigentlich auf andere Aufgaben gehofft hatte. Sein Titel als „Stellvertreter“ änderte nichts daran, daß er nicht zu Hitlers regelmäßigem inneren Gesprächskreis gehörte. An den außenpolitischen Entscheidungen blieb Heß ebenfalls unbeteiligt, das wird auch bei Görtemaker deutlich. Seit Sommer 1934 zum „beteiligten Minister“ ernannt, dem sämtliche Gesetzesentwürfe zeitgleich mit jedem Einzelressort zuzuleiten waren, hätte Heß die Gesetzgebungsverfahren sehr beeinflussen können. Er tat dies „selten“, stellt Görtemaker fest. Beispiel enennt er keine.

Die üblichen Fragen zum Englandflug von Hitlers Stellvertreter im Mai 1941 beantwortet der Autor wie folgt: Flog Heß mit Hitlers Wissen nach England? Nein. Wurde er 1987 ermordet? Nein.

In der Darstellung der Vorgeschichte des England-Fluges wird es teilweise kurios. So versucht sich Görtemaker an der Konstruktion eines Gegensatzes zwischen einem Verständigungswillen von Heß und der angeblich unversöhnlichen Haltung Hitlers gegenüber Großbritannien. Nun sind aber die zahlreichen Verständigungsversuche mittlerweile recht gut erforscht, mit denen die NS-Führung und auch Hitler selbst versuchten, mit Großbritannien ins Gespräch zu kommen. Lord Lothian, der britische Botschafter in den USA, bezeichnete die ihm übermittelten deutschen Friedensvorstellungen nach der Niederlage Frankreichs im Juli 1940 als „überaus befriedigend“ für Großbritannien und setzte sich für deren Prüfung ein. Die Kriegswilligen in London um den Regierungschef Winston Churchill interessierten sich jedoch weder für dieses noch für andere Angebote ähnlicher Art. Nichts davon findet sich in Görtemakers Darstellung. 

Verzerrungen finden sich ebenso beim Bericht über die Europareise des stellvertretenden US-Außenministers Sumner Welles im Februar 1940, die ihn auch nach Berlin führte. Nur Rudolf Heß sei gegenüber Welles vom vorgegebenen Kurs der NS-Führung abgewichen und habe Verhandlungsbereitschaft signalisiert, so Görtemaker. Tatsächlich erklärte man dem US-Amerikaner in Berlin unisono, zu jedem vernünftigen Kompromiß bereit zu sein. Man glaube aber, die Westmächte wollten keinen Kompromiß, sondern die Vernichtung Deutschlands. Eine Absicht, nach der sich Welles dann in Paris und London erkundigte und die er dort bei vielen bestätigt fand. Was dann zur Aufforderung des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt an Frankreich und Großbritannien führte, eine entsprechende Erklärung abzugeben, Deutschland nicht vernichten zu wollen. Auch von diesem Vorgang findet sich bei Görtemaker keine Spur, was wirklich ärgerlich ist, weil er zur Vorgeschichte des Heß-Flugs gehört, mit dem die britischen Hindernisse schließlich sozusagen durch persönlichen Einsatz umflogen werden sollten.

Wäre Heß nicht nach England geflogen, wäre er wohl mit den anderen im Nürnberger Hauptprozeß zum Tode verurteilten Angeklagten im Oktober 1946 hingerichtet worden, spekuliert Görtemaker abschließend. Das hätte selbst nach den willkürlichen Kriterien der Nürnberger Prozesse, die der Autor dankenswerterweise anspricht, eine Verstrickung in die Entscheidungsführung und Kriegsmaßnahmen des nationalsozialistischen Deutschlands vorausgesetzt, die vor dem Englandflug nicht bestand. Nach der Lektüre von Görtemakers Biographie spricht nichts dafür, daß sie jemals hätte zustande kommen können. Rudolf Heß wurde schlicht sein Titel als „Stellvertreter“ zum Verhängnis, der ihn lebenslänglich hinter Gitter brachte, da die Hauptperson nicht greifbar war. Mit den Haftjahren wurde der Titel immer symbolträchtiger und verhinderte eine Begnadigung. Am Ende konnten bundesdeutsche Behörden nicht einmal mehr die Existenz seines Grabes ertragen und drängten auf Auflösung. Das symbolisiert den Zustand der Republik, die sich in der Tat noch lange mit der Erforschung der nationalsozialistischen Ära beschäftigen wird. 

Manfred Görtemaker: Rudolf Heß. Der Stellvertreter. C. H. Beck, München 2023, gebunden, 758 Seiten, 38 Euro