© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/23 / 27. Oktober 2023

Der Ausschluß Thilo Sarrazins aus der SPD
Klassische Nestbeschmutzer
(dg)

Die Redensart „Das eigene Nest beschmutzen“ war vermutlich schon vor 1.000 Jahren verbreitet und ist seit dem Spätmittelalter sicher nachweisbar. Als ihr  Vorbild figuriert ausgerechnet der apart-schöne Wiedehopf, der als „schmutziger Vogel“ galt, weil er sein Nest mit eigenem Kot verunreinigte. Auch im heutigen Sprachgebrauch ist diese altertümliche, ehrabschneidende Bewertung menschlicher „Nestbeschmutzer“ noch üblich, während der ihm semantisch verwandte Whistleblower, derjenige, der andere „verpfeift“, zumindest außerhalb seiner Gruppe als mutiger Aufklärer gerühmt wird. Kritik innerhalb des eigenen Umfelds werde also immer noch hart sanktioniert, weil die soziale Identität von Gruppen, denen sie angehören, für ihre Mitglieder einen hohen Wert fürs eigene Selbstverständnis hat. Dieses sozialpsychologische Phänomen, das die Literaturwissenschaftlerin Iris Hermann (Bamberg) anhand von Texten österreichischer Virtuosen grantelnder Netzbeschmutzung, Karl Kraus, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Peter Handke, untersucht („Von schmutzigen Vögeln und schwarzen Schafen“), gehört in einer pluralisierten und globalisierten Welt, in der Menschen sehr vielen verschiedenen Gruppen zuzurechnen sind, nur scheinbar der Vergangenheit an, obwohl es sehr viel seltener als früher auftritt, wie für Hermann der Ausschluß Thilo Sarrazins aus der SPD beweist. Hier habe es sich um eine „klassische Nestbeschmutzersituation“ gehandelt, die darin gipfelte, ein unliebsames, die soziale Identität der Partei störendes Mitglied nach Jahren quälender Diskussionen „zu entfernen“ (Aus Politik und Zeitgeschichte, 33-34/2023). 


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