© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/23 / 03. November 2023

Haarscharf am Weltkrieg vorbei
Als die Sowjets 1983 eine Nato-Stabsatomübung mißverstanden
Bernd Rademacher

Im November 1982 stand die Welt mehrfach am atomaren Abgrund des Dritten Weltkrieges, ohne es zu wissen.Es war die heiße Phase des Wettrüstens: Die Sowjetunion hatte begonnen, entlang des „Eisernen Vorhangs“ Mittelstreckenraketen mit Nuklearsprengköpfen zu stationieren. Inspiriert von Bundeskanzler Helmut Schmidt schloß der Westen mit dem „Nato-Doppelbeschluß“ zur Nachrüstung auf. Rund elftausend russischen „SS-20“-Raketen standen nun etwa zehntausend US-amerikanische „Pershing II“ gegenüber. 

Die politische Rhetorik wurde zusehends aggressiver. Horst Teltschik, der Berater für innerdeutsche Beziehungen von Kanzler Helmut Kohl, schilderte später: „Diplomatisch lief nichts mehr.“ Während die bundesdeutsche – von der DDR massiv infiltrierte – „Friedensbewegung“ exklusiv gegen die US-Raketen demonstrierte, lag im Atomschutzbunker der Bundesregierung eine vorbereitete Ansprache von Bundespräsident Karl Carstens zum Ausbruch des Weltkrieges bereit.

Juri Andropow ordnete bereits Gefechtsbereitschaft an

Im Februar simulierte die Nato beim Manöver „Wintex/Cimex“ einen Angriff aus dem Osten, der am vierten Tag mit 116 Atomschlägen innerhalb von sieben Stunden gegen den Warschauer Pakt beantwortet worden wäre. DDR-Spion „Topas“ saß allerdings mit am Lagetisch. Im September gab es einen Fehlalarm bei den Sowjets: Die Satellitenüberwachung zeigte auf dem Bildschirm sich nähernde US-Raketen. Der diensthabende sowjetische Offizier Oberstleutnant Stanislaw Petrow blieb jedoch besonnen und löste entgegen seinem Befehl keinen sofortigen Atom-Gegenschlag aus.

Am 3. November startete das Nato-Manöver „Able Archer“ (fähiger Bogenschütze). Die Kommandostabsübung sollte vor allem die Kommunikation trainieren. Von einem Befehlsstand in Belgien gingen Alarm-Funksprüche an Einheiten zwischen Ostsee und tschechischer Grenze. Übungsszenario: Angriff des Ostens nach diplomatischem Zwischenfall. Die US-Militärs erwarteten einen konventionallen Angriff des Warschauer Paktes bei Fulda („Fulda-Gap“). Die Strategie der NVA- und Sowjet-Truppen sah dagegen einen schnellen Stoß durch Niedersachsen und Westfalen an Rhein und Ruhr vor.

Lauschstationen in der DDR fingen die Meldungen auf. Die Sowjetführung glaubte an einen realen Überraschungsangriff, als Manöver getarnt. Kein Wunder: An den Nato-Flugzeugen hingen Kernwaffen-Attrappen. Der kranke Greis Juri Andropow ließ Truppen in der DDR und Polen in Gefechtsbereitschaft versetzen. Unter anderem im thüringischen Atomwaffenlager „Granit III“ bei Altenburg wurden 40 Mig-21 mit Atomraketen und scharfen Sprengköpfen bestückt; die Maschinen rollten aus den Hangars, die Piloten ließen die Motoren warmlaufen. US-amerikanische Agenten in der DDR meldeten die Aktivitäten hektisch nach Washington. US-Präsident Ronald Reagan erkannte die Gefahr und ließ „Able Archer“ augenblicklich abbrechen. Die MiGs rollten zurück in ihre Hangars. Von all dem erfuhr die Öffentlichkeit nichts.