© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/23 / 17. November 2023

Wer was wird, wird Wirt
Literatur: Das neue Buch von Bestseller-Autor Robert Seethaler ist eine betörende Reminiszenz an das Wien der sechziger und siebziger Jahre
Dietmar Mehrens

Der eine folgt seinem Traum und wird, obwohl eigentlich bereits als Schauspieler durchaus erfolgreich, Bestseller-Autor; der andere folgt seinem Traum und wird, obwohl eigentlich als Hilfsarbeiter durchaus erfolgreich, Gastwirt. Es könnte durchaus sein eigener Werdegang gewesen sein, der Robert Seethaler, den aus der ZDF-Krimiserie „Ein starkes Team“ bekannten Schauspieler, zu diesem Buch inspirierte. Immerhin trägt die Hauptfigur von „Das Café ohne Namen“, der Kaffeehaus-Betreiber Simon, denselben Vornamen wie sein Erfinder: Robert.

Robert Simon ist ein technisch begabter junger Mann im Wien der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der im ersten Kapitel dieses kleinen Romans das Glück beim Schopfe packt und den Schritt in die Selbständigkeit wagt: Er eröffnet ein Café in der Leopoldsgasse, gleich gegenüber vom Karmelitermarkt, auf dem er sich zuvor eine Zeitlang als Aushilfskraft verdingte. Da es mit der künstlerischen Kreativität im Gegensatz zum handwerklichen Geschick etwas hapert, fällt ihm für sein Café kein vernünftiger Name ein. Es bleibt das Café ohne Namen, das es von Anfang an war.

Abschiedsschmerz und Wehmut prägen am Ende den Ton

Robert eröffnet 1966 mit einem eher bescheidenen Angebot: Limonade, Bier und Wein, Heißgetränke und Schmalzstullen sind anfangs alles, was er seinen Gästen zu bieten hat. Doch nach und nach füllt sich der Laden und konsolidieren sich die Finanzen. Die Menschen aus dem Viertel machen das Lokal zu einem – heute würde man sagen: Szenetreff. Irgendwann ist sogar ein Ruhetag drin. Mit der selbstbewußten Mila findet der frischgebackene Wirt die ideale Serviererin für sein Café der verlorenen Seelen, wie er seine Gäste in Gedanken nennt. Mila gründet schließlich mit einem seiner Stammkunden, dem Ringer René, eine Familie. Simon selbst hat weniger Glück: Er verguckt sich in die drogenkranke Jascha, eine klassische Problemfrau, die ihn eines Tages vor seinem Laden anspricht. Als schließlich – inzwischen sind einige Jahre vergangen und die Siebziger angebrochen – das Gebäude verkauft wird, steht die Existenz des Cafés auf der Kippe.

Wie schon in Seethalers Sensationserfolg „Ein ganzes Leben“ (2014) sind Fortschritt und Veränderung, eine U-Bahnlinie, eine neue Brücke, ein Viertel, das sich wandelt, die Begleitmusik der Handlung, eine Musik, die nicht für jeden ein Gassenhauer ist. Abschiedsschmerz und Wehmut prägen den Ton, wenn am Ende vom „Aufflackern einer fast schon erloschenen Zeit“ die Rede ist. So formulieren Menschen, die den progressiven Kräften in der Gesellschaft mißtrauen.

Jenseits alles Spektakulären geht es um kleine Alltagsdramen

Daß Seethaler ein vehementer Verfechter des Fortschritts um jeden Preis nicht ist, verrieten schon die früheren Rückblicks-Romane des Erfolgsautors. Er inszeniert mit Vorliebe versunkene Welten. Statt E-Mails gibt es in seiner neuen Erzählung die „Post- und Telegraphenverwaltung“, Milchprodukte kauft man nicht im Supermarkt, sondern bei der Milch- und Käsehändlerin Heide Bartholome, und Gespräche finden nicht über soziale Medien statt, sondern an Stammtischen. „Wer eine Stadt von innen aushöhlt, darf sich nicht wundern, wenn sie untergeht“, legt der Autor in Kapitel 38 Rose Gebhartl, einer seiner vielen Nebenfiguren, in den Mund. Die treue Kaffeehaus-Kundin sieht „die Schuld an dem Unglück“ bei Politikern „in ihrer grenzenlosen Blödheit und Selbstüberschätzung“. Eine herzliche Einladung an den Leser, die Brücke ins gegenwärtige Energiewende- und Transformationszeitalter zu schlagen. 

Am ehesten kann sich wohl ein Bild von diesem Buch machen, wer Iwan Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“ (1852) kennt, eine Sammlung von Anekdoten und Alltagsgeschichten, zusammengehalten durch einen Erzähler, der oft die Szene freimacht für Auftritte der vielen Nebenfiguren, um die es dem Autor eigentlich ging, um sein Zeit- und Sittengemälde des ländlichen Rußlands im 19. Jahrhundert zu erstellen.

Einen Ich-Erzähler gibt es hier zwar nicht, und Robert Simon ist eindeutig die Hauptfigur der Geschichte. Aber es gibt auch Kapitel, in denen er gar nicht vorkommt, in denen ein Fenster aufgeht, um kurz Einblick zu gewähren in wichtige Stationen anderer Lebensgeschichten: der seiner Bedienung Mila und ihres Ehemannes René oder der Kriegerwitwe, bei der Simon wohnt, oder der von Heide Bartholome und ihrem treulosen Geliebten Mischa Troganjew (auffällige Assonanz zu Turgenjew). Auch sein Freund, der Fleischermeister Johannes, und dessen Angehörige rücken immer mal wieder in den Blickpunkt. Zwischendurch streut der Erzähler geschickt kurze Kapitel ein, in denen er einfach „die beiden Damen“, zwei Klatschtanten, beim Gespräch belauscht.

Es ist mithin, wie so oft in der Erzählkunst der Gegenwart, mal wieder nicht das monumentale Tableau einer dramatischen Existenz konstitutive Essenz dieses Romans, sondern die kleine Prosaskizze, die sich Kapitel für Kapitel zum Roman auftürmt, obwohl jede von ihnen auch für sich stehen könnte, des Romanganzen gar nicht bedarf. Und wie bei Turgenjew geht es in „Das Café ohne Namen“ zwar mitunter auch um die großen Schicksalsschläge wie Simons Unfall im Heizungskeller im März 1970, bei dem er drei Finger verliert, vor allem aber geht es um die kleinen Alltagsdramen: Krankheiten, finanzielle und seelische Nöte, beginnende und endende Liebe. Wie Turgenjews Sprache ist auch die von Seethaler vollkommen frei von Manierismus und Selbstverliebtheit. Beide Autoren folgen der Devise Präzision vor Prätention. Dieses jedem Satz abzuspürende Motto ist die entscheidende Stärke des Österreichers und hat auch sein neues Buch, obwohl ihm alles Spektakuläre fehlt, völlig verdient wieder zum Verkaufsschlager gemacht.

Robert Seethaler: Das Café ohne Namen. Roman. Claassen, Berlin 2023, gebunden, 288 Seiten, 24 Euro