© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/23 / 08. Dezember 2023

Der Flaneur
Der erste Schnee
Paul Leonhard

Ein vertrautes, aber lange nicht mehr gehörtes Geräuch dringt an mein Ohr. Sollte etwa? Schnell springe ich aus dem Bett und ziehe den Rolladen nach oben. Tatsächlich. Ein Hausmeister ist schwer beschäftigt. „Schnee“, juchzen neben mir die Kinder und pressen ihre Nasen ans Fenster: „Papa, es schneit. Können wir Schneemann bauen gehen?“

Während ich schnell ein paar Stullen schmiere, öffnet meine Frau den Karton mit den neuen Wintersachen. Alles paßt. In völlig ungewohntem Tempo ziehen sich die Kinder an. Schon drängeln sie an der Tür. Auf geht’s.

In unserem Mietshaus sind wir die ersten, die ihre Spuren im jungfräulichen Schnee hinterlassen: „Du bist gemein“, schallt es da schon. Der Sohn hat seiner Schwester aus nächster Nähe den ersten Schneeball ins Gesicht geworfen. Die reibt sich das Gesicht und schmollt. 

Aber ehe ein richtiger Streit ausbricht, jubeln die beiden schon wieder beim Anblick des Schlittens, den ich aus dem Keller hervorhole. Schwubs sitzen sie drauf und ich habe das zu tun, was Väter im Winter bei Schneefall zu tun haben, sich in ein Zugtier zu verwandeln. Passanten grienen mitfühlend.

Sie haben den Grünen vertraut und die Sommerreifen drauf gelassen.

Andere sind vom Wetterwechsel überrascht wie ich. Der Autofahrer beispielsweise, der mit bloßen Händen den zentimeterhohen Schnee von der Front- und den Seitenscheiben auf die Erde wirft, schaut etwas neidisch auf die gefütterten Fäustlinge der Kinder. 

Andere fahren in Schrittgeschwindigkeit. Sie haben die Sommerreifen drauf gelassen und den Grünen auf ihrem Parteitag vertraut, die von Erderwärmung sprachen, oder dem Wetterbericht von gestern abend, in dem keine Rede von Schneefall in der Großstadt war, geschweige denn von einer geschlossenen Schneedecke.

Ich komme gut voran mit dem Schlitten. Einmal in Bewegung rutscht er fast von selbst. Die Kinder zeigen auf die Stadthunde, die bunte Sachen tragen. Ziel ist der kleine Berg neben der Schule. Es zeigt sich, daß wir nicht die einzigen Frühaufsteher sind. Fünf Kinder rodeln schon auf Holz- und Plasteschlitten oder rutschen einfach auf dem Hosenboden.

Zwei Stunden später ist der Spaß schon wieder vorbei. Aber zumindest haben die Kinder ihren ersten Winterspaß gehabt. Und der Schnee erinnert an noch etwas: „Papa, kommt jetzt der Weihnachtsmann?“